1. Grundlagentexte1.1. Einführung in Subkultur und Politik__Eine „Illusion von Freiheit” – Subkultur und Organisierung 1.2. Organisierung und Politik__Die frühe Homosexuellenbewegung__Der Bund für Menschenrecht__Wissenschaftlich-humanitäres Komitee2. Vertiefende Texte2.1. Homosexuellen-emanzipatorische Werke__„Der Liebe Lust und Leid der Frau zur Frau" – Ein wiederentdeckter Lesbenroman von 18952.2. Freundinnen, Beziehungen, Netzwerke__„Freundinnen und Gefährtinnen. Annäherungen an das Phänomen ‚Frauenpaare um 1900'“ |
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1.1. Einführung in Subkultur und PolitikEine Einführung „Ich kann und will keine Namen nennen, denn so lange in vielen Kreisen die Homosexualität noch als etwas Verbrecherisches und Naturwidriges, im besten Falle als etwas Krankhaftes gilt, könnten sich Damen, welche ich als homosexuell bezeichnen wollte, beleidigt fühlen.“1 Dieses Zitat aus einer Rede von Anna Rüling zum Thema „Homosexualität und Frauenbewegung“ aus dem Jahr 1904 verdeutlicht, wie stark tabuisiert weibliche Homosexualität im deutschen Kaiserreich war. Dies galt auch für die verschiedenen Flügel der Frauenbewegung, in der sich zwar etliche Frauen engagierten, die zum Teil jahrzehntelang zusammenlebten und -arbeiteten, wie etwa Helene Lange (1848-1930) und Gertrud Bäumer (1873-1954) oder Lida Gustava Heymann (1868-1943) und Anita Augspurg (1857-1943),2 die sich aber selbst nie als homosexuell bezeichnet hätten. Zu stark war der Begriff durch die Medizin, die das Phänomen um 1870 „entdeckt“ und als krankhafte Perversion definiert hatte, pathologisiert worden.3 |
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Umso bemerkenswerter ist die selbstbewusste Rede Anna Rülings am 9. Oktober 1904, in der sie sich nicht nur selbst als homosexuell bezeichnete. Ihre Ausführungen gelten – soweit bislang bekannt – als weltweit „erste lesbenpolitische Rede“, wie Christiane Leidinger vermutet.4 Sie fand auch heraus, dass es sich bei Anna Rüling um das Pseudonym der damals 24-jährigen Journalistin Theo Anna Sprüngli (1880-1953) handelte. Sprüngli sprach auf der Jahrestagung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), der weltweit ersten Homosexuellenorganisation, die 1897 von dem Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) gegründet worden war. Hirschfeld sah in der Homosexualität eine angeborene natürliche – und nicht krankhafte – Erscheinung und trug damit zu einem positiven Selbstverständnis bei. Ob Sprüngli – sowie die Schriftstellerin Johanna Elberskirchen (1864-1943)5 – zu den wenigen Frauen zählte, die schon früh den von Männern initiierten und dominierten Homosexuellengruppen angehörten, ist unklar. Das WhK hatte die wissenschaftliche Aufklärung der Öffentlichkeit über Homosexualität zum Ziel und engagierte sich vor allem für die Abschaffung des §175 StGB, der seit der Reichsgründung 1871 homosexuelle Handlungen zwischen Männern kriminalisierte, während solche zwischen Frauen straffrei waren.6 Allerdings gab es z.B. im Zuge einer Strafrechtsreform um 1909 auch Bestrebungen, den §175 auf Frauen auszudehnen. Verschiedene Vertreterinnen der Frauenbewegung sprachen sich dagegen aus, allerdings eher defensiv und mit formalistischen Argumenten. Dies war nicht zuletzt eine Folge von Diffamierungskampagnen, die die Anliegen der Frauenbewegung nach beruflicher oder rechtlicher Gleichstellung von Frauen dadurch zu diskreditieren versuchten, indem sie behaupteten, die Frauenbewegung sei „lesbisch unterwandert“. Die starke Ausrichtung auf eine Strafrechtsreform und die akademische Struktur des WhK, das darauf bedacht war, prominente Persönlichkeiten für seinen Kampf zu gewinnen, haben mit dazu beigetragen, dass Frauen, die erst 1908 zu allen deutschen Universitäten zugelassen wurden, in diesen Gruppen nicht stärker vertreten waren. Darüber hinaus verboten bis 1908 Vereinsgesetze in den meisten deutschen Ländern die „politische“ Organisierung von Frauen. Um dennoch Treffpunkte zu schaffen, wurden Vereinigungen gegründet, die offiziell beispielsweise als harmloser Sparverein firmierten, oder es gab private Zirkel, die jedoch selten Spuren hinterlassen haben.7 Erst die Errungenschaften der Weimarer Republik, wie das Wahlrecht für Frauen, Versammlungsfreiheit sowie Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse, ermöglichten nach 1918 eine Organisierung und Sichtbarwerdung lesbischer Frauen, wie sie bis dahin in Deutschland nicht existiert hatte. Zentrum der homosexuellen Kultur und Emanzipationsbewegung war zweifellos Berlin. Die Anonymität der Großstadt und ein fortschrittliches Klima hatten dies begünstigt. Demgegenüber war die soziale Kontrolle durch Familie und Umwelt auf dem Land und in den Kleinstädten viel repressiver. In Berlin, aber auch in anderen Großstädten wie Hamburg, Köln, Frankfurt am Main und München, gab es in den 20er Jahren eine Vielzahl von Vereinen und Lokalen, in denen lesbische Frauen ihresgleichen treffen konnten. Die Clubs unterschieden sich u.a. nach der sozialen Herkunft ihrer Besucherinnen. Da gab es etwa das im vornehmen Westen Berlins gelegene Lokal Mali und Igel, benannt nach den Spitznamen der beiden Betreiberinnen, Amalie Rothaug (1890-1984) und Elsa Conrad (1887-1963), das mit seinen 600 Mitgliedern zu den exklusivsten der Stadt zählte. |
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Dort traf sich „die Elite der intellektuellen Welt, Filmstars, Sängerinnen, Schauspielerinnen, überhaupt die künstlerisch schaffende und die wissenschaftlich arbeitende Frau“, wie es die szenekundige Schriftstellerin Ruth Roellig8(1878-1969) in ihrem Buch Berlins lesbische Frauen9 beschreibt. Weit weniger finanzkräftig und vornehm ging es dagegen in der Taverne zu, einer Tanzdiele am Alexanderplatz, in der der Damenklub Skorpion verkehrte, der seinen Namen möglicherweise dem gleichnamigen Roman von Anna Weirauch (1887-1970)10 verdankte. Einer der bekanntesten Clubs dürfte jedoch Violetta gewesen sein, in dem vor allem Angestellte und Verkäuferinnen verkehrten.11 |
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Die Clubs und Vereine, die mit ihren kulturellen Angeboten den politischen Emanzipationsprozess unterstützten, gehörten z.T. den großen gemischten Homosexuellenorganisationen an, wie dem 1923 gegründeten Bund für Menschenrecht (BfM), der auf die nach Kriegsende erfolgte Gründung sogenannter Freundschaftsvereine zurückging. Hauptanliegen des BfM war der Kampf gegen den §175 sowie Aufklärungsarbeit und der Zusammenschluss homosexueller Männer und Frauen. Von 1923 bis zu seinem Tod war Friedrich Radszuweit (1876-1932) Vorsitzender des BfM; er war auch einer der wichtigsten Verleger homosexueller Medien, die dank der Pressefreiheit in der Weimarer Republik erscheinen konnten und insgesamt Millionenauflagen erreichten. Neben identitätsstiftenden Romanen12 wie dem bereits erwähnten Skorpion oder dem Quell der Einsamkeit (1928) von Radclyffe Hall (1880-1943) und dem Film Mädchen in Uniform (1931) von Christa Winsloe13 (1888-1944) fanden insbesondere Zeitschriften, die sich speziell an lesbische Frauen richteten, große Resonanz. Sie waren in Berlin am Kiosk erhältlich oder über Abonnement zu beziehen, was besonders für Frauen in der „Provinz“,14 die nach wie vor unter sozialer Isolierung litten, von großer Bedeutung war. Neben der seit 1926 erscheinenden Frauenliebe (ab 1930: Garçonne) war Die Freundin wohl am bekanntesten und erschien mit Unterbrechungen zwischen 1924 und 1933. Diese Zeugnisse einer „neuen weiblichen Subkultur“ stellt Heike Schader in ihrem Buch über die Lesben-Zeitschriften der Weimarer Republik quellenreich dar.15 |
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Zu den Mitarbeiterinnen der Freundin gehörten etwa Selma Engler (1899-1982, „Selli“ genannt) und Elsbeth Killmer (1890-1957),16 die sich auch als Leiterinnen mehrerer Clubs hervortaten. Zu den Aktivistinnen, die immer wieder in der Presse präsent waren, gehörte u.a. Charlotte Hahm (1890-1967).17 |
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Seit 1926 leitete sie den Club Violetta mit über 400 Mitgliedern und seit 1929, gemeinsam mit Kati Reinhardt, die Vereinigung Monbijou. Lotte Hahm gründete und führte darüber hinaus die Monokel-Diele und die Manuela-Bar. Auch als Leiterin der Damenabteilung des BfM setzte sie sich unermüdlich für die Organisierung lesbischer Frauen und für die Verbesserung ihrer sozialen Lage ein, organisierte Vorträge, Lesungen und Ausflüge und bemühte sich darum, dass auch in anderen Städten entsprechende Organisationen entstanden. Doch auch diese Freiräume, die sich homosexuelle Frauen und Männer in der Weimarer Republik – trotz Massenarbeitslosigkeit und Inflation – hatten erkämpfen können, blieben nicht ungefährdet. Es erschienen zahlreiche antihomosexuelle und antifeministische Pamphlete. So wandte sich etwa ein Ehrhard F.W. Eberhard in seinem Buch Die Frauenbewegung und ihre erotischen Grundlagen, das eine schier unerschöpfliche Sammlung antifeministischer Vorurteile enthält, gegen die Frauenbewegung und machte sie für nahezu alle tatsächlichen oder vermeintlichen gesellschaftlichen Missstände in der von ihm verhassten Republik verantwortlich. Sie stelle nicht nur die herrschenden Machtstrukturen in Frage. In dem Kapitel „Tribadie und Frauenemanzipation“ warf Eberhard der angeblich lesbisch unterwanderten Frauenbewegung außerdem vor, Frauen zu „verführen“ und sie dem Mann sowie der Institution Ehe zu entziehen. Bei Frauen handele es sich in viel größerem Umfang als beim Mann um Pseudohomosexualität, also um ein erworbenes Laster, und wie manche seiner Zeitgenossen forderte Eberhard die Subsumierung von Frauen unter den §175. Auch das am 18. Dezember 1926 eingeführte Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften war ein probates Mittel, um gegen die homosexuelle Presse und ihre Präsenz in der Öffentlichkeit vorzugehen. Damit konnten Zeitschriften verboten bzw. ihr öffentlicher Verkauf eingeschränkt werden – mit dem Ziel, Jugendliche vor einer vermeintlichen Verführung zur Homosexualität zu schützen. So wurde z.B. Die Freundin im Juni 1928 für ein Jahr verboten, und die Garçonne durfte ab Juni 1931 ein Jahr lang nicht mehr öffentlich ausgehängt werden, das heißt sie war nur noch für Eingeweihte unter dem Ladentisch zu haben. Des Weiteren gab es Vereine, zu deren Zielsetzung vor allem die Bekämpfung der Homosexuellenorganisationen gehörte, wie der Deutsche Bund für Volksaufartung und Erbkunde oder der katholische Volkswartbund, der den Volkswart, eine Monatsschrift „zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit“, herausgab und anderes ähnliches Material publizierte, wie z.B. die Denkschrift §175 muß bleiben!, die sich gegen die geforderte Streichung des Paragraphen richtete.18 Darüber hinaus reichten die Aktionen gegen Homosexuelle vom Verbot öffentlicher Tanzveranstaltungen und Versammlungen 1932 durch den Chef der Politischen Polizei im Berliner Polizeipräsidium, Rudolf Diels (1900-1957), ferner von Razzien in den Lokalen bis hin zu tätlichen Angriffen, etwa gegen Magnus Hirschfeld, der nach einem Vortrag in München 1920 von völkischen Studenten lebensgefährlich zusammengeschlagen worden war. Dass die Nationalsozialisten der Homosexualität prinzipiell feindlich gegenüberstanden, überrascht wohl kaum. Dies hatten sie – in Zeitungsartikeln und anderen Verlautbarungen – in den 20er Jahren deutlich gemacht. Demzufolge war es ihr Ziel, die Homosexualität auszurotten, denn sie stellte die Familienideologie und vor allem die Bevölkerungspolitik der Nazis in Frage. Die kriegerische Eroberung neuen „Lebensraumes“, eines der Hauptziele Hitlers, erlaubte keine selbstbestimmte Form von Sexualität und damit auch keine Homosexualität. Allerdings entwickelten die Nazis keine spezifisch neue Homosexualitätsideologie; radikal war dagegen ihr Vorgehen. Dabei konnten sie auf eine homophobe Einstellung in der Bevölkerung bauen, die eine lange Tradition hatte. Als 1933 alle parteipolitisch oder anderweitig nicht genehmen Gruppen zerschlagen wurden, gehörte dazu auch die organisierte Homosexuellenbewegung. Das weltbekannte, von Magnus Hirschfeld 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft wurde zerstört, während sich der Bund für Menschenrecht selbst auflöste. Die Lokale und Vereine wurden geschlossen oder überwacht, Bücher und Zeitschriften mit homosexuellem Inhalt kamen auf den Index. Razzien und Denunziationen sorgten zudem für ein Klima der Angst. „Damals begann die Zeit der Maskierung“, so drückte es K. v. Sch., eine Berliner Modezeichnerin, aus. Sie wurde von ihrem Chef in eine Ehe gedrängt und hätte zumindest ihre Arbeit verloren, wenn sie sich geweigert hätte. „Instinktiv hat man sich geschützt. Man hat sich abgekapselt und hat sich entsprechend benommen: vorsichtig.” So formulierte es Elisabeth Zimmermann (1913-1995), eine andere Zeitzeugin.19 Während die Nationalsozialisten bereits 1933 mit der Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung begannen, war ihr Vorgehen gegen die Homosexuellen anders geartet. Sie konnten ja nur schwer, wenn überhaupt, von der heterosexuellen Bevölkerung unterschieden werden – im Gegensatz zu politischen GegnerInnen oder zu Jüdinnen und Juden, die bekanntlich über die standesamtlich registrierte Religonszugehörigkeit definiert wurden. Die große Mehrheit der geschätzten zwei bis drei Millionen Homosexuellen zählte weiterhin zur „Volksgemeinschaft“, und man hielt sie prinzipiell für „umerziehbar“ oder besserungsfähig. Ein weiterer Unterschied zur Judenverfolgung ist auch darin zu sehen, dass gegen homosexuelle Männer anders vorgegangen wurde als gegen Frauen. Dies zeigt sich vor allem, aber nicht nur, im Strafrecht, das für die Verfolgung schwuler Männer von zentraler Bedeutung war. Während der §175 ausschließlich sexuelle Handlungen zwischen Männern kriminalisierte, konnten jedoch Fälle, in denen lesbische Handlungen z.B. mit Untergebenen, Minderjährigen, gewaltsam oder öffentlich begangen wurden, strafrechtlich verfolgt werden §174, §176, §183 StGB). Der lesbische „Tathintergrund“ blieb in der Statistik jedoch unsichtbar. Nur mehr oder weniger zufällig kommen solche Fälle ans Tageslicht, z.B. in Regionalstudien wie einer 2005 veröffentlichten Untersuchung über Homosexuellenverfolgung in Mecklenburg und Vorpommern.20 §175 wurde im Juni 1935 vom Reichsjustizministerium verschärft, Strafmaß und Tatbestand wurden extrem ausgeweitet, mit der Folge, dass die Zahl verurteilter Männer rapide anstieg. Während jedoch die Strafwürdigkeit der männlichen Homosexualität nie in Frage gestellt war, wurde im Zuge der Verschärfung des §175 darüber diskutiert, ob in Zukunft auch Frauen kriminalisiert werden sollten. Die meisten Juristen im Reichsjustizministerium sprachen sich jedoch mit folgenden Argumenten dagegen aus: Erstens wurden Frauen häufig als nur „pseudohomosexuell“ und durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr „kurierbar“ beschrieben. Das Bevölkerungswachstum schien deshalb durch die weibliche Homosexualität nicht ernstlich gefährdet. Bei homosexuellen Männern werde dagegen „Zeugungskraft vergeudet, sie scheiden zumeist aus der Fortpflanzung aus, bei Frauen ist das nicht oder zumindest nicht im gleichen Maß der Fall“.21 Zweitens würden die emotionalen Umgangsformen zwischen Frauen eine eindeutige Abgrenzung zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten erschweren. Die Feststellung des Tatbestandes bei Frauen sei deshalb kaum einwandfrei möglich. Und drittens schien aufgrund der untergeordneten Stellung von Frauen im NS-Staat weibliche Homosexualität das öffentliche Leben nicht ernsthaft zu bedrohen. Im Gegensatz dazu wurde homosexuellen Männern unterstellt, sie würden einen oppositionellen „Staat im Staate“ bilden und darüber hinaus die rigiden Geschlechtsnormen, auf denen der NS-Staat basierte, unterminieren. Dennoch gab es einige Juristen, die bei diesen Debatten die Kriminalisierung lesbischer Frauen forderten. Bekannt ist heute vor allem der Jurist und SS-Scharführer Rudolf Klare (1913-1946?), dessen Doktorarbeit Homosexualität und Strafrecht 1937 erschien. Weibliche Homosexualität sei mindestens ebenso stark verbreitet und berge „die gleichen Gefahren für die völkische Gemeinschaft […] in sich“ wie die männliche, da sie zur „Rassenentartung“ und damit zum Untergang des deutschen Volkes führe: „Der Grund für die Bestrafung lesbischen Verkehrs soll die […] Umkehrung des natürlichen Empfindens der Frau, ihre dadurch verursachte Entfremdung von ihrer natürlichen Bestimmung als Gattin und Mutter und die wiederum dadurch bedingte Verfälschung und Schädigung des völkischen Lebens sein.“22 Klare verwies dabei auf die Situation in Österreich, wo auch lesbische Liebe verfolgt wurde23 – allerdings längst nicht intensiv genug, wie er fand. In der Tat sanktionierte der §129 des österreichischen StGB seit 1804 die sogenannte „Unzucht mit einer Person desselben Geschlechts“ mit Zuchthaus von einem bis fünf Jahren. Dieses Gesetz betraf also auch Frauen. Auch nach der Annexion Österreichs im März 1938 wurde §129 gegen Frauen angewandt, denn das österreichische StGB blieb in seinen Grundzügen vorläufig weiter in Kraft, es wurde jedoch um die entsprechenden „Rassegesetze“ etc. ergänzt. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass weibliche Homosexualität in Österreich – im Gegensatz zum sogenannten Altreich – strafrechtlich verfolgt wurde. Die Zahl der Verurteilten stieg auch hier rapide an: allein in Wien wurden zwischen 1938 und 1943 über 1100 Männer sowie 66 Frauen nach §129 verurteilt. Die Gefahr, wegen „Unzucht“ angeklagt zu werden, war also für Männer sehr viel größer als für Frauen. Zum einen suchten Männer ihre Partner häufig in Parks oder Bädern, was zu vielen Denunziationen führte. Die von Frauen begangenen sexuellen Handlungen spielten sich dagegen meist im häuslichen Bereich ab, der größeren Schutz bot. Diese unterschiedliche Intensität der strafrechtlichen Verfolgung in Österreich ist symptomatisch für das geschlechtsspezifische Vorgehen der Nationalsozialisten in punkto Homosexualität. Dies ist vor allem auf den unterschiedlichen Stellenwert von Frauen und Männern im Dritten Reich zurückzuführen, in dem alle einflussreichen Positionen in Partei und Staat mit Männern besetzt waren. Die vielfältigen Kontrollmechanismen gegenüber Frauen im familiären, rechtlichen, politischen und ökonomischen Bereich machten eine strengere Anwendung des Strafrechts als Mittel zur Abschreckung und Einschüchterung überflüssig. Dies zeigt etwa ein Beispiel aus dem Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain.24 Dort wurden im März 1940 zwei Frauen von ihrer Nachbarin, die Verdächtiges aus der Nebenwohnung gehört haben wollte, denunziert und schließlich von der Gestapo vernommen. Sie gaben schließlich zu, mehrmals miteinander geschlafen zu haben. Die 30-jährige Hildegard Wiederhöft zeigte sich reuig und behauptete, „vollkommen normal veranlagt zu sein“ und aus „reiner Neugierde“ heraus gehandelt zu haben. Sie stehe im Begriff, zum Vater ihrer Kinder zu ziehen. Demgegenüber gab die 34-jährige Helene Treike zu, lesbisch zu sein und sich seit frühester Jugend ausschließlich „zum gleichen Geschlecht hingezogen“ zu fühlen. Die Namen früherer Partnerinnen wollte sie jedoch nicht nennen. Die Gestapo kam abschließend zu dem Ergebnis, dass es sich bei Helene Treike „um den männlichen Teil“ handle; ihre Freundin mache dagegen nicht den Eindruck, ausschließlich „den Kreisen der sogenannten weiblichen Homos“ anzugehören. Eine strafrechtliche Verfolgung der Angelegenheit, so stellte die Gestapo bedauernd fest, scheide jedoch aus, da „die lesbische Liebe bisher nicht strafbar ist“. Beide Frauen wurden jedoch gezwungen, sich sofort zu trennen und auseinanderzuziehen. Die Gestapo legte Karteikarten über sie an und stellte insbesondere Helene Treike unter Beobachtung – um nötigenfalls weitere Maßnahmen ergreifen zu können. Ob dies geschehen ist, geht aus den Dokumenten jedoch nicht hervor. Das Beispiel zeigt, wie schnell auch Frauen aufgrund einer Denunziation mit den Verfolgungsbehörden in Konflikt geraten konnten. Abgesehen von solchen Fällen waren lesbische Frauen vor allem von den frauenpolitischen Maßnahmen des Regimes betroffen. Jede sogenannte Arierin war zu Mutterschaft und Ehe bestimmt, sofern sie nicht als „erbkrank“ galt. Denn das Bevölkerungswachstum war für die Nationalsozialisten von zentraler Bedeutung – schließlich strebten sie die Weltherrschaft an. Lesbische Jüdinnen – wie etwa die Malerin Gertrude Sandmann, die im Berliner „Untergrund“ überlebte – oder politische Aktivistinnen – wie Hilde Radusch, die 1933 aufgrund ihrer KPD-Zugehörigkeit verhaftet wurde – waren besonders gefährdet.25 Auch die Verdrängung von Frauen aus einflussreichen Positionen und Berufen, die Auflösung und „Gleichschaltung“ der Frauenbewegung und die Kontrolle von Millionen „arischer“ Frauen in NS-Organisationen trugen dazu bei, dass lesbische Frauen die „Volksgemeinschaft“ nicht ernsthaft zu gefährden schienen. Deshalb kon-zentrierten sich die Gestapo und die Kriminalpolizei bei der Bekämpfung der Homosexualität in erster Linie auf homo-sexuelle Männer, die zu „Volksfeinden“ erklärt wurden. Allein zwischen 1937 bis 1939 wurden von einer Spezialabteilung der Kripo, der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, 95.000 Personen namentlich erfasst, die im Verdacht standen, homosexuell zu sein. Leider existieren die Akten dieser Reichszentrale nicht mehr, und wir wissen deshalb nicht, ob hierbei auch Frauen registriert wurden. Obwohl lesbische Frauen nicht systematisch und – mit Ausnahme Österreichs – auch nicht strafrechtlich verfolgt wurden, heißt dies nicht, dass sie völlig ungefährdet waren. Wie aus einigen Dokumenten hervorgeht, wurden manche Frauen aufgrund anderer Delikte, z.B. wegen Diebstahls oder Betrugs, inhaftiert; im Gerichtsverfahren oder bei der Inschutzhaftnahme spielte jedoch auch ihre sexuelle Orientierung eine Rolle. Dies war etwa bei Elsa Conrad der Fall, der Leiterin des Clubs Mali und Igel, der wie fast alle einschlägigen Lokale im März 1933 geschlossen worden war. Während ihre Freundin und Geschäftspartnerin Amalie Rothaug sich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gezwungen sah, in die USA zu emigrieren, nahm Elsa Conrads Schicksal einen anderen Verlauf. Aufgrund einer Denunziation – man warf ihr pikanterweise vor, behauptet zu haben, dass Hitler mit seinem Stellvertreter Rudolf Hess ein Verhältnis habe – wurde sie zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Als Grundlage diente das Heimtückegesetz vom Dezember 1934, das sich gegen die vermeintliche „Verleumdung“ von Partei und Staat richtete. Ausdrücklich wurde aber auch darauf hingewiesen, dass Elsa Conrad „lesbisch veranlagt“ sei und „Verhältnisse zu lesbisch veranlagten Frauen“ gehabt habe. Mit einer gewissen Bertha Stenzel etwa sei sie 14 Jahre lang liiert gewesen. Bevor sie ihre Haftstrafe ganz verbüßt hatte, wurde sie von der Gestapo Anfang 1937 in Moringen inhaftiert, wo sich das erste Frauen-Konzentrationslager (KZ) in Preußen befand. Bei einer Haftüberprüfung wurde Elsa Conrad mitgeteilt, dass sie nur entlassen werde, wenn sie sich zu einer Auswanderung nach Palästina oder Übersee bereit erkläre. (So wurde bei den jüdischen Häftlingen verfahren, zu denen auch Conrad gezählt wurde, da sie eine jüdische Mutter hatte.) Notgedrungen willigte sie schließlich ein. Ihre frühere Geliebte, Bertha Stenzel, besorgte die erforderlichen Papiere, einen Pass und eine Schiffspassage nach Ostafrika, wohin Elsa Conrad im November 1938 entkam.26 Wenige Hinweise auf vermutlich lesbische Frauen finden sich auch in Ravensbrück, wo sich seit 1939 das zentrale Frauen-KZ befand. Dort wurden am 30. November 1940 zwei Frauen, die 26-jährige Elli Smula und die 30-jährige Margarete Rosenberg, inhaftiert. In beiden Fällen war als Haftgrund „politisch“ mit dem Zusatz „lesbisch“ angegeben. War es Zufall, dass beide Frauen, die einen roten Winkel bekamen, am selben Tag inhaftiert wurden? Kannten sie sich vielleicht? Doch wie ihr Leben vor der Verhaftung verlief und ob sie das Lager überstanden, ist wie so oft aufgrund fehlender Quellen nicht mehr zu klären. Es gibt außerdem Belege dafür, dass Frauen bei einer Razzia in Lokalen mit homosexuellem Publikum verhaftet wurden. Obwohl derartige Gaststätten offiziell verboten waren, gab es auch nach 1933 in verschiedenen Großstädten einschlägige Kneipen. Meist erfuhr jedoch auch die Polizei davon. Dies wurde einer Verkäuferin in Hamburg zum Verhängnis. 1940 wurde sie verhaftet und in Ravensbrück inhaftiert. Sie hatte die Warnung einer Freundin missachtet, die von einem Polizeibeamten gehört hatte, dass Razzien in einschlägigen Lokalen durchgeführt würden. Als Nichtjüdin hatte sie jedoch Glück im Unglück, denn nach neun Monaten wurde sie aus dem Lager entlassen, und sie überlebte die NS-Zeit. Obwohl die Hamburgerin gegen kein bestehendes Gesetz verstoßen hatte, konnte die Polizei sie im Zuge der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ festnehmen. Ein entsprechender Erlass vom Dezember 1937 gab der Polizei die Möglichkeit, um auch von der Norm abweichende, aber nicht straffällig gewordene Personen als sogenannte Asoziale zu inhaftieren. Diese wurden mit einem schwarzen Winkel gekennzeichnet. Wenn Frauen in ein Konzentrationslager eingewiesen wurden, bekamen sie keinen rosa Winkel wie homosexuelle oder der Homosexualität verdächtigte Männer. Sie wurden stattdessen anderen Gruppen zugeordnet. Das heißt, es gab keine spezielle Häftlingskategorie für lesbische Frauen, weshalb die Suche nach ihren Spuren so schwierig ist. Erst die Errungenschaften der Weimarer Republik ermöglichten nach 1918 eine Organisierung und Sichtbarwerdung lesbischer Frauen, wie sie bis dahin in Deutschland nicht existiert hatte. In den Großstädten entstanden zahlreiche Vereinigungen, und von den einschlägigen Medien profitierten auch lesbische Frauen in der „Provinz“. Doch gab es zahlreiche gesellschaftliche Kräfte, die die Emanzipationsbestrebungen der organisierten Homosexuellenbewegung bekämpften. Auch verhinderten Massenarbeitslosigkeit und Inflation, dass die 20er Jahre so „golden“ waren, wie sie in der Rückschau, das heißt nach dem Krieg, mitunter erscheinen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde allen emanzipatorischen Bestrebungen der Boden entzogen. Doch bedingt durch den Ausschluss von Frauen aus den Machtpositionen des Dritten Reiches und aufgrund des sexistischen Frauenbildes der Nazis galt weibliche Homosexualität als sozial ungefährlicher und für die Bevölkerungspolitik weniger bedrohlich als die männliche. Auch wenn es keine systematische Verfolgung lesbischer Frauen gab, sollten die Auswirkungen des Terrorregimes weit über das Ende des Dritten Reiches hinausreichen.
© Claudia Schoppmann (Berlin 2007) Zitiervorschlag:
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Eine „Illusion von Freiheit” – Subkultur und Organisierung von Lesben, Transvestiten und Schwulen in den zwanziger Jahren1 |
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„In der Atmosphäre der zwanziger Jahre atmete man die Luft von Freiheit (...). Es war der berühmte Tanz auf dem Vulkan” – so schreibt die Ärztin Charlotte Wolff (1897-1986) rückblickend.2 Berlin, die „Metropole der neuen Republik”, war in dieser Zeit wie ein Magnet und entwickelte „eine besondere Anziehungskraft durch ihre Toleranz, die progressiv-politische und auch sexuelle Außenseiter anlockte”.3 Besonders die „goldenen zwanziger Jahre“ in Berlin werden mit einer blühenden Subkultur von Lesben und Schwulen verbunden. Einmal abgesehen davon, dass die Zeit der Weimarer Republik für den Großteil der Bevölkerung schon aufgrund massiver materieller Not keineswegs „golden” gewesen sind, erreichte der Aufbau subkultureller Strukturen im vergleichsweise liberaleren Klima tatsächlich einen vorläufigen Höhepunkt. Die Journalistin und Szenegängerin Ruth Margarete Roellig (1887-1969) bemerkte 1928 in ihrer Aufklärungsbroschüre Berlins lesbische Frauen, in der sie die Szene und insbesondere deren Lokale vorstellt, früher sei „offiziell“ nicht über „jene“ – also Homosexuelle – gesprochen worden: „Zwar ist (...) seit der Revolution eine ganz besondere Wandlung eingetreten“, aber „trotz aller Toleranz gerade in sexuellen Dingen, ist vorläufig eine Frau, die in diesem Punkte ihre andersgeartete Triebrichtung frei bekennen würde, gesellschaftlich ebenso geächtet wie ehemals.“4 Vorsichtig sinniert sie über den naheliegenden Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Ausbildung einer Subkultur der „Lesbierinnen der Großstadt“ als eine Form des alternativen ‚Zuhauses’: „Vielleicht ist das auch der Grund, dass das Lesbiertum Berlins sich auf ganz bestimmte Lokalitäten beschränkt, in denen die Frauen, frei von jeder gesellschaftlichen oder beruflichen Rücksicht, sich einmal für kurze Stunden ‚unter sich’ fühlen können.” Die Atmosphäre an diesen Orten beschreibt sie sicherlich auch stilistisch gewollt in deutlichem Kontrast zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten der damaligen Zeit: „Eine merkwürdige Übereinstimmung findet man fast bei all den kleinen heimlichen Bars und Dielen: stets sind sie traulich ausgestattet, haben ein sanftes weiches Licht, das in ganz raffinierten Tanzdielen zuweilen auf Augenblicke erlischt – um dann in anderer Farbe wieder aufzuflammen. Überall bevorzugt man eine sentimentale Musik, Stimmung ist die Hauptsache – Stimmung, die hinüberleitet aus dem blassen Alltag in jene fremde, unbegreifliche Welt der Frauenliebe, die niemals eine Zukunft kennt.“5 Mit Subkultur werden, wie hier, zumeist einschlägige Vergnügungslokale assoziiert, doch sie umfasste weit mehr: ein Kommunikationsnetz, Zeitschriften, Organisationen und Vereine. Die Subkultur war eine entwickelte eigene Öffentlichkeit für die Freundinnen und Freunde. Diese Öffentlichkeit oder präziser diese Öffentlichkeiten, mit deren Binnendifferenzen wir uns noch beschäftigen werden, trug/en dazu bei, dass sich positive homosexuelle Identität/en überhaupt ausbilden konnten. Lokale und Vergnügungsstätten Einzelne, ausgewiesen schwule Subkultur-Lokale entstanden nachweislich bereits um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Dies verwundert wenig, da Schwule als Männer auf eine andere Kultur der Besetzung wie auch Etablierung öffentlicher Räume zurückgreifen konnten, und es ihnen als Männer in der Öffentlichkeit erlaubt war, sich – auch abends – frei zu bewegen, anders als Frauen ohne männliche Begleitung. Als älteste (bislang bekannte) Gaststätte für Schwule gilt bislang das Bagio, das 1802 unweit der heutigen Berlin-Kreuzberger Oranienstraße von einem Gastwirt unterhalten wurde.6 Ob es so früh bereits Lokale oder andere regelmäßige Treffpunkte lesbischer Frauen gab, die nicht privater Natur gewesen sind, ist zwar noch nicht erforscht, erscheint aber vor dem Hintergrund der Trennung und geschlechterdifferenten Zuschreibung von Öffentlichkeit und Privatheit als sehr unwahrscheinlich. Nachweislich wurde 1884 über gemeinsame Bälle von Lesben und Schwulen in der Berliner Tagespresse berichtet. Rund zehn Jahre später kolportierte Otto Rudolf Podjukl unter dem Pseudonym Otto de Joux in seiner Schrift Die Enterbten des Liebesglücks für das Jahr 1893 die Existenz regelmäßiger Lesbenmaskenbälle zum Karneval. Junge Frauen der „beste[n] Gesellschaftskreise” sollen sich dort getummelt haben.7 |
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Eine der bekanntesten alten Schwulenkneipen in Berlin um 1900 war das Lokal Hannemanns. Es wurde mindestens von 1896 bis 1912 von Gustav Hannemann geführt. Der Berliner Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) erzählt in seinen Erinnerungen von seinem Besuch dort 1896 oder 1897 – übrigens sein erster Ausflug dieser Art. Die Gaststätte war in der Berliner Alexandrinenstraße 123, ebenfalls im heutigen Kreuzberg. Über die Veränderungen der Subkultur schrieb Hirschfeld: „Die Lokale der damaligen Zeit wurden nur nach Namen des Wirtes oder nach der Straße genannt, in der sie lagen. Zu ihrer Bezeichnung als Dielen oder gar als Paläste hatte man sich noch nicht aufgeschwungen. Dafür ging es in ihnen allerdings bedeutend bescheidener und schlichter zu als in der Mehrzahl der jetzigen Gaststätten. (…) Es gab in urnischen Lokalen auch noch keine Orchester, sondern höchstens Orchestrions, auch keine Jazzbanden [sic], sondern nur Klavierspieler”.8 Lesbisch-schwule Subkulturorte existierten in verschiedenen Variationen: sowohl Lokale ausschließlich für Schwule bzw. nur für Lesben wie auch eine Reihe von gemeinsamen lesbisch-schwulen Veranstaltungen bzw. Orten. Manche dieser gemischten Lokale boten z.B. zudem getrennte Tage für Schwule und solche für Lesben an, von denen Letztere nicht nur im Berliner Dorian Gray in der Bülowstraße 57 „Damen-Elitetag” genannt wurden. Außerdem gab es in großen Häusern mit mehreren Tanzsälen wie in der Zauberflöte in der Berliner Kommandantenstraße 72/Ecke Beuthstraße separate Räume für Frauen und Männer: im Obergeschoss residierte eine „Herren-Abt.[ung]” und im unteren eine „Damen-Abt.[eilung]”.9 Schließlich lassen sich lesbisch-schwule Orte nachweisen, die neben den ohnehin meist anwesenden unvermeidlichen Voyeuren auch von – teilweise erwünschtem – heterosexuell orientiertem Publikum aufgesucht wurden. Ein solches Lokal mit zeitgenössisch internationalem Flair, wahrscheinlich das bekannteste nicht nur der Spreemetropole, war das Eldorado in der Martin-Luther-Straße wie auch das nach dem großem Erfolg eröffnete, vor allem von TouristInnen geprägte zweite Eldorado in der Schöneberger Motzstraße, Ecke Kalckreuthstraße.10 Daneben existierten Kneipen oder Veranstaltungsräume, die von ihren heterosexuellen BesitzerInnen an einzelnen Tagen für ein lesbisches und/oder schwules Publikum geöffnet bzw. für einzelne (Tanz-)Veranstaltungen an diese vermietet wurden, etwa die Residenzfestsäle in der Berliner Landsbergerstraße 31, wo sich an bestimmten Tagen der Damenklub Goldene Kugel traf. Dies war eine der wenigen Vereinigungen, die bereits seit der Kaiserzeit und bis 1933 existierten: 1905 war der Klub gegründet worden und feierte an wechselnden Orten.11 Insgesamt gab es wahrscheinlich nur wenig wirklich exklusive Klubs für Lesben, von denen Männer, unabhängig von deren sexueller Orientierung, ferngehalten wurden. In den meisten Gaststätten, die sich (auch) an homosexuelle Frauen richteten, hatten fast immer zumindest einzelne Schwule oder heterosexuelle Männer Zutritt. Ein Beispiel für einen separatistischen Ort ist das La Garçonne, das Susi Wanowski (Susu Wannowsky u.ä.) im Februar 1931 in der Schöneberger Kalkreuthstraße 11 eröffnete. Das vollmundig selbsternannte „originellste Frauenlokal Berlins“ wurde nach einem Jahr in Jolly Joker umgetauft und von einer Person namens W. Ittmann übernommen.12 Ein weniger bekannter Klub hieß Orgilanda und traf sich immer dienstags in den Blumen-Sälen in der Zimmerstraße 78 in Kreuzberg und bot rund 120 Personen Platz.13 |
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Polizeiliche Duldungspolitik, Razzien und Lokalschließungen In der Berliner Kleiststraße 36 befand sich ein weiterer Lesben-Klub, der Verona Diele hieß. Für Charlotte Wolff hatte dieses Lokal einen „unvergeßlichen Zauber” und strahlte eine besondere „Intensität” aus. Hier erreichten „Vergnügungen” ein „erotisches Ausmaß”, das der Überlieferung zufolge alle gleichermaßen entzückt haben soll. Nicht wenige der lesbischen Frauen, die sich in der Verona Diele amüsierten, sollen Sexarbeiterinnen gewesen sein: „Trotz all der Freiheit – oder der Illusion von Freiheit – in der Weimarer Republik, wurden Lesbierinnen von der Polizei beobachtet, und von Zeit zu Zeit fand eine Razzia in lesbischen Klubs statt. Es war keineswegs klar, ob die Polizei eher gegen Prostituierte oder gegen Lesbierinnen vorgehen wollte, auf alle Fälle fürchteten Besitzer als auch die Besucher dieser Clubs sich vor den Razzien. Die Mädchen dachten, sie würden aus beiden Gründen verfolgt.”14 Als weiteres Motiv für solche Polizeikontrollen nannten andere Zeitzeuginnen die Suche nach Minderjährigen in den Lokalen.15 Der Hintergrund dazu ist sicherlich in der Genehmigungspflicht für die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an öffentlichen Tanzveranstaltungen zu sehen. Zwar bedurfte generell jedes öffentliche Konzert und jede öffentlich zugängliche „Tanzlustbarkeit“ einer polizeilichen Genehmigung, aber der Zutritt von Minderjährigen wurde speziell kontrolliert.16 Der Berliner Polizeipräsident Albert Grzesinski (1879-1947) schrieb am 29. April 1932 auf eine homophobe Beschwerde eines Bautzeners hin, der in Berlin ein Homosexuellenlokal besucht hatte: „Es entspricht einer alten, schon im vorherigen Jahrhundert geübten Praxis der Berliner Polizei, Lokale mit homosexuellem Verkehr im allgemeinen zu dulden und nur einzuschreiten, wenn die Allgemeinheit berührende Mißstände – etwa der Verkehr von Jugendlichen zutage treten.“ Über den Sinn und Zweck dieser Duldungspolitik führt er des Weiteren aus: „Das Bestehen dieser Lokale hat zwei großpraktische Vorteile: sie erleichtern der Kriminalpolizei die obliegende Beobachtung der in Betracht kommenden Kreise und haben eine entsprechende Verminderung des Anstoß erregenden Umhertreibens der Homosexuellen auf den Straßen zur Folge.“17 Die polizeilichen Razzien und Schließungen trafen die lesbisch-schwul-transvestitische Szene. Tanzveranstaltungen wie auch Lokale standen unter dem „Generalverdacht der Unsittlichkeit“ und der Prostitution; Ballbesucherinnen unterstellte die Polizei ohnehin Sexarbeiterinnen zu sein. Der Paragraph 180 (Kuppelei) und insbesondere der Paragraph 183 (Erregung öffentlichen Ärgernisses) wurde als „Instrument“ im Rahmen der Vorwürfe von „’Unsittlichkeit’“ und „’Unzüchtigkeit’“ genutzt, mit dem Lesben im Kaiserreich „den gleichen Repressionsmaßnahmen unterworfen waren wie die männliche Homosexualität. Der § 175 war hierfür nicht ausschlaggebend“. Die Überwachung der Vergnügungen wie auch von Vortragsabenden war „offen und offiziell“.18 Einer der bekanntesten Berliner Frauen-Subkulturorte war sicherlich das Monbijou des Westens, eine Vereinigung, die 600 Mitfrauen zählte.19 In die „streng geschlossene[n] Gesellschaft” des Clublokals an der Ecke Luther-/Wormserstraße im Westen Berlins kam frau nur mit „Einführung”, also einer Empfehlung. Der Eintritt war zudem sehr teuer, wie die Telefonistin und spätere Berliner KPD-Stadtverordnete Hilde Radusch (1903-1994) erzählte. Das Monbijou wurde von zwei Frauen – Amalie Rothaug (1890-1984) und Else Conrad (1887-1963) – geleitet, die den meisten nur als Mali und Igel bekannt waren und deren Spitznamen (vermutlich später) als Clubbezeichnung Mali und Igel am Eingang standen. An dem mondänen Ort verkehrte die „Elite der intellektuellen Welt der lesbischen Frauen, Filmstars, Sängerinnen, Schauspielerinnen, überhaupt die künstlerisch schaffende und die wissenschaftlich arbeitende Frau”.20 Es gab aber auch weniger elitäre Lokale im proletarischen Teil Berlins, beispielsweise die Taverne in der Georgenkirchstraße 30a im Bezirk Friedrichshain. Die Gaststätte, in der – typisch für die lesbische Subkultur – ebenso Transvestiten verkehrten,21 nannte sich auch „Diele der Damen”; Inhaberin war Margarete Panten (geborene Klemm). Täglich trafen sich dort bereits ab den Nachmittagsstunden homosexuelle Frauen. In der Taverne, die an den beliebten Samstagen mit Tanz 30 Pfennig Eintritt kostete, was bei anderen Lokalitäten oftmals fast doppelt so teuer war, kamen verschiedene Frauenvereinigungen zusammen, nachweislich zwischen 1926 bis 1930 der Damenklub Skorpion.22 Außerdem veranstaltete die Taverne „Bocksbiertrubel, Strandfeste [und] Maskenbälle”.23 Um die Höhe des Eintrittspreises in die Lebenshaltungskosten einordnen zu können, hier ein Preisvergleich: Bereits ein Essen in einer Berliner Wohlfahrtsküche kostete um die Jahre 1929, 1930, 1931 20 Pfennige.24 Die Taverne, so schreibt Ruth Margarete Roellig in Berlins lesbische Frauen, war aus Schutz vor der Polizei ebenfalls eine geschlossene Gesellschaft: „In der engen anseitigen Georgenstraße [sic], die sonst in der Verschlafenheit dahindämmert, schimmert blass ein Licht. Darauf steuert man zu – und es stimmt. Die Tür ist verschlossen, ein Klopfen, nochmals – eine Hand schiebt ein wenig den Vorhang von der Glasscheibe zurück, man wird gemustert – und vorsichtig öffnet sich die Pforte. Dumpfe Bierluft und Rauchschwaden empfangen den Eintretenden und eine grelle Jazzmusik wimmert beinahe erschütternd.25 Während in der Taverne, die demzufolge nach Gesichtskontrolle einließ, Männer zwar mögliche, aber nur gelegentliche Gäste waren, gingen sie in manchen anderen Kneipen regelmäßig ein und aus, da einige Frauenlokale wie beispielsweise der Toppkeller männliche Gäste „als Zechemacher und Zuschauer” zuließen.26 Zur Begründung hieß es etwa: „Denn das eine steht fest: Frauen sind selten Trinkerinnen großen Stils – und der Wirt muß auch leben!” Ein solcher Blick auf die Gaststätten-Kasse war in der Frauenszene durchaus umstritten, nicht alle wollten nur wegen des Geldes mit Männern an einem Ort feiern – eine Debatte, die insbesondere in den neunziger Jahren auch die Frauen- und Lesbenszene bundesdeutscher Städte beherrschte.27 Der „Topp“, wie der Toppkeller mit seinem gemischten Publikum von Eingeweihten oft nur kurz genannt wurde, lag in der Berliner Schwerinstraße 13. Hier oder anderenorts in derselben Straße traf sich montags abends um neun Uhr der Lotterieverein Die Pyramide, dem ältere Damen vorstanden. Es war eine „sehr gemischte Gesellschaft”, wie Claire Waldoff berichtete, die dort u.a. die Schauspielerin Gertrud Eysoldt (1870-1955), die Tänzerin Anita Berber (1899-1928) und die mit ihr Anfang der zwanziger Jahre liierte Sängerin Susi Wanowski traf.28 Solche Vergnügungsstätten wurden wegen der anwesenden Männer (und heterosexuellen Frauen) „Schaulokale” genannt.29 Die Offenheit vor allem für Heterosexuelle, die auch „Seh-Leute” oder verschlüsselter „Marine” hießen, waren in der Szene umstritten: „Es sind nämlich Menschen, welche in alle einschlägigen Lokale kommen, um uns zu besehen, um uns anzustarren. Also Sehleute”, so heißt es erklärend in der Lesbenzeitschrift Die Freundin im November 1929 und weiter: „Im ‚Erâto’ bei ‚Selli’ sind wir aber völlig unter uns!”30 |
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Den in der hier zitierten Kurzgeschichte erwähnten Damenklub gab es tatsächlich: Selli Engler (1899-1982) hatte ihn unter dem Namen Erâto am 28. September desselben Jahres gegründet. Er residierte eine Weile in der zweiten Etage der Zauberflöte.31 Dort war desgleichen der lesbische Club Violetta ansässig, der sich einiges für seine Mitfrauen einfallen ließ, wie etwa am 7. Juli 1928 die „Mondschein-Dampferpartie“ 9 Uhr abends ab Hallesches Tor. Das Erâto feierte nach seinem Auszug aus der Zauberflöte Anfang der dreißiger Jahre u.a. im Märkischen Hof in der Kreuzberger Admiralstraße 18c. Der Tanzsaal fasste 600 Personen, was auf eine gelungene Etablierung des Damenclubs Erâto schließen lässt.32 |
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Politische Aktivistinnen in der Subkultur Neben der umtriebigen Selli Engler ist als weitere in der Subkultur verankerte Aktivistin Elsbeth Killmer (1890-1957) zu nennen – dem reaktionären Volkswart, Organ des Volkswartbundes (Vwb), einem 1898 gegründeten interkonfessionellen Männerverein, galt sie als „Vorkämpferin der lesbischen Frauenwelt”.33 Killmer war Teil der älteren Lesbengeneration, die ‚im Sub’ anzutreffen war, lebte unverheiratet und hatte einen Sohn namens Lothar. Sie gehörte zum Damenclub Violetta und war Redakteurin und Autorin von Lesbenzeitschriften wie der Freundin. Außerdem hielt sie einige (leider nicht überlieferte) Vorträge wie „Freundschaft oder Ehe”, „Stellung der modernen Frau zur Homosexualität” und über „Die Notwendigkeit der homosexuellen Aufklärung”. Im September 1929 sprach sie zum zehnjährigen Jubiläum des Bundes für Menschenrecht zum Thema „Die Gleichberechtigung der homosexuellen Frau”. Für den 10. April 1930 kündigte die Zauberflöte einen Vortrag von ihr mit dem Titel „Männliche Frauen in alter und neuer Zeit“ an. Killmer war die einzige in der Subkultur rege engagierte Frau, von der bekannt ist, dass sie sich mit der Frauenbewegung politisch verbunden fühlte.34 Sie forderte auch die heterosexuellen Frauen in der Frauenbewegung auf, „ihren homosexuellen Schwestern die Hand des Bundes in dem Kampf zur Befreiung [zu] reichen, auch dem homosexuellen Mann”, denn: Nur „Einigkeit macht stark!”35 Killmer kritisierte typisch feministisch die Ideologie der Geschlechterunterschiede, die in Wahrheit ein Produkt der Erziehung und „tausendjähriger Unterdrückung durch den Mann” sind.36 Sie war es wahrscheinlich, die unter der Redaktion von Bruno Balz den Teilabdruck des Textes von Johanna Elberskirchen (1864-1943) Die Liebe des dritten Geschlechts in der Freundin lancierte. Dieser erschien unter dem neuen Titel Was ist Homosexualität? in gekürzter Form als dreiwöchige Folge in den Juli-Ausgaben 1929.37 In ihrem mit dem Stichwort Wahrheiten überschriebenen Artikel argumentierte Elsbeth Killmer wenige Wochen nach dem Wiederabdruck des Textes wie Elberskirchen, ohne jedoch deren Namen zu erwähnen.38 Das Konzept vom „dritten Geschlecht“, auf das sich Johannna Elberskirchen allerdings lediglich explizit über den ursprünglichen Buchtitel bezog,39 wurde eine Art Grundlage der Selbstverständniskonzepte lesbischer Frauen. Sich mit dem Reprint von Elberskirchens Publikation bewusst auf eine Frau anstatt auf männliche homosexuelle Autoritäten zu beziehen, ist sowohl als eine Form von Widerspenstigkeit und Widerständigkeit gegen männliche Definitionsmacht wie auch als Teil einer eigenen Kultur in den Zwanzigern lesbar.40 Neben Elberskirchen bezieht sich die einzige von einer Lesbe herausgegebene Lesbenzeitschrift, die BIF – Blätter idealer Frauenfreundschaften, bereits einige Zeit vorher auf einen Text von Anna Rüling. Diese Frau gilt der Zeitschrift bzw. den AutorInnen als „eine der besten Kennerinnen der weiblichen Homosex. [sic]“, als eine „sich selbst als urnisch bekennende Schriftstellerin“.41 Bei Anna Rüling handelt es sich um das Pseudonym von Theo Anna Sprüngli (1880-1953). Neben Killmer war eine weitere politisch aktive Frau der Subkultur die Buchhalterin Aenne Weber. Sie arbeitete 1924/1925 als Redakteurin der Freundin und hielt am 10. November 1924 im Luisenstadt-Kasino in der Alten Jacobstraße 64 einen Vortrag zum Thema „Die homosexuelle Frau und die Reichstagswahl”.42 Im selben Jahr leitete Weber die Damenabteilung des BfM, der sich bis 1928 (wohl stets mittwochs) in der Alten Jakobstraße 32 in den Central-Festsälen traf, freitags war Unterhaltungsabend. Die Central-Festsäle, in denen auch andere Lesben- und Schwulenorganisationen feierten, können als „das Homo-Zentrum“ Anfang der zwanziger Jahre” in Berlin beschrieben werden.43 Weitere Macherinnen der lesbischen Subkultur Berlins waren die Pianistin Charlie (Charly), die mindestens zehn Jahre aktiv war, beispielsweise 1932 als Vorsitzende des Damenklubs Monbijou. Prominent zu nennen ist hier außerdem Lotte Hahm (1890-1967).44 Sie war zumeist streng in typische Männerkleidung gewandet und schätzte nicht nur Unterhaltung, sondern trat auch für eine politische Organisierung von Lesben ein: 1926 war sie Leiterin des Damenclubs Violetta, des Weiteren Gründerin und/oder Wirtin der Manuela Bar, ab 18. März 1931 auch der Monokel Diele in der Budapester Straße 14 in Schöneberg. 1928 leitete sie den Damenclub des Bundes für Menschenrecht. Auch während des Nationalsozialismus scheute sie sich nicht, Zusammenkünfte zu organisieren.45 Eine weitere zentrale Figur nicht nur der Lesbenszene in den Weimarer Jahren, sondern – wie Lotte Hahm – auch der Nachkriegszeit bis weit in die Siebziger war die Künstlerin Käthe Reinhard, genannt „Kati“. Die Sängerin führte den Damenclub Monbijou, der sich 1928 aus dem Deutschen Freundschaftsverband gegründet hatte. Während der NS-Zeit denunzierte sie einen Lesbenverein; bekannt ist bislang lediglich Folgendes dazu: Reinhard meldete, dass am 5. Oktober 1935 in den Residenzfestsälen in der Landsbergerstraße 31 (heutige Landsberger Allee) im Friedrichshain eine Festveranstaltung des Vereins Lustige Neun stattfinden würde. Die Gestapo beobachtete schließlich das Treiben der anwesenden 150 Frauen und fertigte ein entsprechendes Überwachungsprotokoll an, weiter passierte wohl nichts.46 Sozialstruktur und Sichtbarkeit der Subkultur-Orte Sozial betrachtet zeichneten sich die Kneipen möglicherweise nur selten durch eine Mischung aus. Ob eine Überwindung der Klassenschranken in der Szene überhaupt gewünscht war, ist eine schwer recherchierbare und bislang nicht untersuchte Frage. Der Club Harmonie (ein schwuler oder schwul-lesbischer Zusammenschluss) aus Leipzig inserierte jedenfalls in einer einschlägigen Zeitschrift mit einem abgrenzenden Zusatz: „nur rechtschaffene, gebildete Leute des Mittelstandes, jeden Alters”.47 Eine Zeitzeugin, gestandene Sozialistin, Jahrgang 1904, berichtete über acht bis zehn Hamburger Lesbenlokale im Gängeviertel, in St. Pauli, die alle von Arbeitertöchtern besucht wurden. Bürgerliche Frauen frequentierten die Orte ihr zufolge nicht.48 Es finden sich aber ebenso Überlieferungen zu Berliner Clubs, deren Besucherinnen sich, wie Ruth Margarete Roellig kolportierte, aus „fast allen Kreisen der Bevölkerung” zusammengesetzt haben sollen: die „Liebe ihrer Art ist das einzig Gemeinsame dieser sozial bunt durcheinandergewürfteln Schichten”.49 Auch die Malerin Gertrude Sandmann (1893-1981) schrieb über die Subkultur als „klassenlose Gesellschaft” von Homosexuellen. Der bereits genannte Toppkeller war für sie ein solcher sozial integrierender Ort: „Er war etwas Einmaliges. Dort traf sich wirklich alles: die Akademikerin wie die Verkäuferin, die ‚Dame von der Straße’ wie die Dame der Gesellschaft, prominente Künstlerinnen wie die Arbeiterin”.50 Es ist davon auszugehen, dass in Städten mit einer kleineren und damit wenig ausdifferenzierten Subkultur, die nur aus ein oder zwei Lokalen oder Treffpunkten bestand, das Publikum aus unterschiedlichen Klassen kam, wobei das genannte Leipziger Inserat ein Gegenbeispiel für die kleineren subkulturellen Szenen ist.51 Die in Berlin vermutlich weniger weit verbreitete soziale Homogenität wurde an bestimmten Vergnügungsorten sicherlich durch Eintritts-, Tanz- oder Verzehrpreise forciert, die sich ohnehin nur finanzkräftige Gäste leisten konnten. Dies war ein strukturelles Problem, das sich in Zeiten der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933, die 1931/1932 mit über sechs Millionen Erwerbslosen ihren Gipfel erreichte, fraglos verschärft hatte. In der Zeitschrift Die Freundin schrieben einzelne Frauen in Leserinnenbriefen vom „tägliche[n] Hetzen und Jagen nach Erwerb”, existenzbedrohender „Armut” und „Not” und vermitteln damit einen ersten Eindruck der bestehenden und drängenden Alltagsprobleme lesbischer Frauen, die sich ihre eigene, männerunabhängige Existenz sicherten.52 Selbstredend wirkten sich nicht nur Klassenzugehörigkeit und Klassismus auf die Subkultur aus bzw. spiegelten gesellschaftliche Verhältnisse. Der Antisemitismus im Kaiserreich könnte dazu beigetragen haben, dass sich wahrscheinlich auch jüdische Lesben separat trafen. Magnus Hirschfeld berichtet 1904 jedenfalls von einer Konditorei im Norden Berlins, die „täglich zwischen 4 und 6 Uhr nachmittags von urnischen Israelitinnen zahlreich besucht wird, welche hier Kaffee trinken, plaudern, Zeitungen lesen, Skat und mit Vorliebe Schach spielen”.53 Die Veranstaltungsorte und Lokale waren oftmals eine Art strategisches Versteck, um sich in einem vergleichweise geschützten Raum unter Gleichgesinnten aufhalten und neue Kontakte knüpfen zu können.54 Den zumindest teilweise deutlich halböffentlichen Charakter wie auch den homosexuellen Separatismus der Subkultur in der Weimarer Zeit belegen verschiedene Äußerungen: Die Sängerin Claire Waldoff (1884-1957) sprach vom „verschwiegene[n] Eldorado der Frauen”, zu dem man „durch die Haupttore gehen” musste.55 In Ruth Margarete Roelligs Buch heißt es dazu: „Berlin ist verhältnismäßig reich an solchen heimlichen und meist nur den Eingeweihten bekannten Zusammenkunftsorten”, die „selbst für den scharfen Beobachter wenig“ auffallen. Mit Ausnahme von international berühmten Lokalen wie das Eldorado gelte die Devise, die sicherlich vor der Polizei schützen sollte: „[J]e weniger Aufsehen ihr Betrieb macht – um so lieber ist es den Inhabern”. Im Übrigen sei den BesitzerInnen „durchaus nicht daran gelegen, vom großen Publikum aufgesucht zu werden”.56 Eine Zeitzeugin, Jahrgang 1906, erzählte ebenfalls, „auch unsere Lokale waren alle so ein bißchen versteckt”. Davon zeugen auch Tarnbezeichnungen wie Lotterieverein Die Pyramide von dem Claire Waldoff berichtete. 57 Ob viele Berliner Lesben und Schwule in der Weimarer Republik tatsächlich „im Licht der Öffentlichkeit” tanzten, die Orte oder Veranstaltungen also stets präsent und offensichtlich waren sowie als „Teil des öffentlichen Lebens von Berlin“ betrachtet werden können, lässt sich (noch) nicht abschließend klären.58> Naheliegenderweise war die Sichtbarkeit als homosexuelle Treffpunkte auch sehr unterschiedlich. NachbarInnen und PassantInnen mit einem aufmerksamen Auge für andere Lebenswelten konnten wahrscheinlich erkennen und realisieren, wer dort regelmäßig ein- und ausging. Die Infrastruktur der Subkultur bestand aber nicht nur aus den Lokalitäten. Nach dem revolutionären Sturz der Monarchie kamen Organisationsstrukturen, die teilweise mit den Gaststätten verbunden waren, und außerdem Zeitungen hinzu. Verbände und Gruppierungen der Subkultur Erstmals erschien am 14. August 1919 im Berliner Karl-Schultz-Verlag eine Zeitschrift für gleichgeschlechtlich orientierte Frauen, Männer und „Transvestiten“: die Freundschaft, mit einer Startauflage von 20.000 Exemplaren. Zwischen 1919 und 1922 war diese Wochenschrift für Aufklärung und geistige Hebung der idealen Freundschaft wichtigstes Organ der Homosexuellenbewegung und „Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins”.59 Das Konzept der Zeitschrift bestand in einer Kombination aus politischem Kampf, Information und Vernetzung sowie Unterhaltung. Die Zeitschrift konnte sich auf ein informelles Netzwerk gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in Berlin und anderen deutsch(sprachig)en Städten stützen; Umfang und Auflage stiegen kontinuierlich. Einen Monat, nachdem die Zeitschrift Freundschaft aus der Taufe gehoben worden war, gründete sich am 15. September 1919 der Berliner Freundschaftsbund e.V.60 Angeregt durch die Zeitschrift entstanden in vielen Städten des Deutschen Reiches, in Österreich und der Schweiz lokale, auch über Ländergrenzen vernetzte Freundschaftsverbände. Die deutschen Organisationen schlossen sich im August 1920 auf Einladung des Wissenschaftlich humanitären Komitee (WhK) in Berlin zum Deutschen Freundschaftsverband (DFV) als Dachverband zusammen; außerdem hatten das WhK und der DFV mit der Gemeinschaft der Eigenen einen Aktions-Ausschuß zur Beseitigung des Paragraphen 175 gebildet. Auf dem ersten Verbandstag Anfang März in Kassel waren acht Vereine vertreten.61 Als Motive für die Gründungen können die Politisierung durch die Novemberrevolution wie auch die enttäuschten Hoffnungen auf die Beseitigung des Paragraphen 175 und vielleicht auch die Zensur(diskussionen) gelten. |
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Diese erfassten beispielsweise den am 24. Mai 1919 in Berlin erstmals gezeigten Aufklärungsfilm Anders als die Andern von Richard Oswald (1880-1963). Der Film, in dem auch Anita Berber mitwirkte, war in Zusammenarbeit mit Magnus Hirschfeld entstanden.62 |
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Als Hauptziel wurde in der Zeitschrift Die Freundschaft 1921 die „Befreiung aller Invertierter von gesetzlicher und gesellschaftlicher Verfehmung” formuliert.63 Auf dem zweiten Verbandstag im April 1922 in Hamburg nannte man als konkretere und teils weitergehende Forderungen und Ziele des DFV: Abschaffung des Paragraphen 175, Kampf gegen die Ächtung der Homosexuellen, außerdem wollte man Erpressern und Ausbeutern das Handwerk legen, des Weiteren sollte Mitgliedern ein kostenloser Rechtsbeistand angeboten werden.64 Als eine Strategie gegen die Repression suchte man auch den Kontakt mit der Polizei und versuchte, Absprachen zu treffen.65 Organ des in Berlin-Kreuzberg ansässigen DFV wurde Die Freundschaft. 1921 entstanden weitere Zeitschriften. Seit 1924 erschienen auch Printmedien für lesbische Frauen. Ein Jahr zuvor hatte sich der DFV in Bund für Menschenrecht (BfM)66 umbenannt und führte erstmalig die Blätter für Menschenrecht als offizielles Organ mit halb/monatlicher Erscheinungsweise ein. Der Bund etablierte sich zur einzigen Großorganisation von Lesben und Schwulen in der Weimarer Zeit. Die aus verschiedenen Quellen stammenden Mitgliederzahlen des BfM weichen aber sehr stark voneinander ab: Der Vorsitzende des Bundes Friedrich Radszuweit (1876-1932) nannte für das Jahr 1929 48.000 Mitglieder, während Max Danielsen dagegen behauptete,67 man habe drei Jahre zuvor nur 380 Mitglieder gezählt. Den extrem unterschiedlichen Angaben liegen vermutlich differente Berechnungen zugrunde: Teilweise wurden anscheinend zu den zahlenden Mitgliedern auch die ZeitschriftenabonnentInnen addiert.68 Von noch höheren Zahlen gingen rechtsgerichtete Organisationen wie der Volkswartbund aus. Laut seinen Angaben soll der BfM 1924 100.000 AnhängerInnen gehabt haben.69 Frauen und Männer wurden vom Bund gleichermaßen angesprochen, wobei die Beteiligung von Frauen umstritten war. Ihr Anteil blieb ebenso wie die Zahl der ArbeiterInnen sehr gering; der monatliche Mitgliedsbeitrag von 5 Mark (1919 für Berlin und 1920 für Hamburg überliefert) war sicherlich für viele eine unüberwindbare Hürde.70 Für diejenigen, die sich die Mitgliedschaft leisten konnten – überwiegend junge Männer zwischen 18 und 40 Jahren – , waren die Verbände ein „Freiraum”, der auch die Möglichkeit bot, neue Freundschaften zu schließen.71 Sowohl in Lokalen, Bädern und Theatern, die männerbegehrende Männer zum Kennenlernen frequentierten, als auch an den bewusst anonymen Treffpunkten für schnelle und unverbindliche sexuelle Kontakte wie die sogenannten Klappen, also öffentliche Toiletten und Parks oder Bahnhöfe, ist dies sicherlich schwerer gewesen. Politische Repräsentanz von Frauen In den Vorstand des BfM wurde 1924 als erste Frau die Charlottenburger Buchhalterin Aenne Weber gewählt und war für die Schriftleitung zuständig; 1927 folgte ihr die Kreuzberger Stenotypistin Erna Hiller als Schriftführerin. Olga Stahl ernannte man zur Kassenprüferin. Auch in manchen Ortsgruppen wurden Frauen Verbandsfunktionen übertragen.74 Die Unterrepräsentanz in den Organisationen wie auch die Männerdominanz in den Lokalen dürften ein wichtiger Grund gewesen sein, dass sich Frauen als „Ergänzung oder Alternative” eigene Treffpunkte schufen. Dies gelang jedoch nicht immer oder zumindest nicht in der gewünschten Form, was Anlass für szeneinterne Konflikte gewesen ist. Die Entscheidung des Damenklubs Violetta, die Türen auch für Männer zu öffnen, führte wohl dazu, dass sich immer mehr Voyeure einfanden und der Kreis der Besucherinnen immer kleiner wurde. Daran sollen sich die Verantwortlichen des Klubs Violetta angeblich nicht weiter gestört haben, solange die männlichen Zuschauer Eintritt zahlten und gut verzehrten. Vielleicht meinte Violetta, nur mit der Öffnung für Männer den Ort finanziell halten zu können. Oder es hatte doch die ungenannte Autorin der Frauenliebe damit Recht, als sie der Klubleitung vorwarf, es gehe nur um Profit. Jedenfalls ist es bemerkenswert, wie sie den dann folgenden Schritt des Klubs, dem BfM beizutreten, kritisierte: „Die letzte Zuflucht [des Damenklubs Violetta, cl] ist der vollständige Verrat an der Frauenbewegung: Anschluß an den B.f.M., an die Bewegung der Männer! Das ist das Endresultat des schnöden Mammons wegen. Auch der Bund für Menschenrecht, die Organisation des männlichen Geschlechts, versucht durch bewußte Irrführung seine Damengruppe wieder aufzubauen. (…) Der Damenklub ‚Monbijou’ ist dem Deutschen Freundschaftsverband nach wie vor angeschlossen und nicht dem Bund für Menschenrecht, wie in einer Zeitung fälschlicherweise behauptet wird und tagt in der Zauberflöte, Kommandantenstraße 72 (Ecke Beuthstraße)”.75 Der Titel des Beitrags, aus dem dieses Zitat stammt, lautete: „Verrat des mann-männlichen Damenklubs ‘Violetta’“ und deutet auf einen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Selbstverständnissen von lesbischen Gruppierungen und den Auseinandersetzungen um die Subkulturpolitik. Neben den heute nicht mehr ganz nachvollziehbaren Konflikten zwischen den beiden Verbänden ist hieran interessant, dass in dem kritischen Statement eine Nähe von separatistisch-lesbischer Subkultur zur Frauenbewegung ausgedrückt wird. Ob dies ausschließlich die Meinung der Autorin war, was auf die Aktivistin Elsbeth Killmer hindeuten würde, oder weitergehend auf eine allgemeine(re) politische Sympathie mit der Emanzipationsbewegung der Frauen rekurriert, bleibt offen. Ein deutliches Indiz für die politische Nähe der Lesbensubkultur mit zumindest einem Ziel der Frauenbewegung findet sich 1924 im Profil einer der Zeitschriften, die sich an gleichgeschlechtlich begehrende Frauen richtete. Darin heißt es: „’Die Freundin’ wird eintreten für Gleichberechtigung der Frauen im gesellschaftlichen Leben”.76 In den anderen Artikeln der Zeitschrift/en lassen sich allerdings keinerlei Inhalte nachweisen, die auf eine Verbindung mit der Frauenbewegung hindeuten.77 Die sich in der eigenen Organisierung ausdrückende Kritik an den Zusammenschlüssen von Schwulen bzw. deren auch politische Dominanz – die aber wohl nicht nur auf den sie unmittelbar betreffenden Strafrechtsparagraphen 175 zurückzuführen sein dürfte –, spiegelt sich deutlich in der Bezeichnung Bund für Frauenrechte. Diese Organisation existierte vermutlich nur kurz. Die Gründung diese Frauenrechtsbundes hatte Elsbeth Killmer 1927 mitinitiiert. Durch jenen Bund sollte die Damenabteilung des BfM abgelöst werden und diesem lediglich korporativ angeschlossen bleiben.78 Dies scheint mittelfristig gescheitert zu sein. Am 30. April 1929 verkündete Die Freundin die Reorganisation der Damenabteilung unter neuer Leitung. 1930 rief Lotte Hahm dazu auf, einen Bund für ideale Frauenfreundschaft zu gründen: „Die Frauenorganisation muß, wenn sie wirklich ernst genommen werden und im Kampf etwas leisten will, auf ähnlicher Grundlage wie der BFM e.V. aufgebaut werden.“ Der Bund der Frauen wurde letztlich doch als Teilorganisation des BfM etabliert.79 Subkultur jenseits der Spreemetropole Die Ergebnisse obgleich noch unvollständiger Auswertungen von Kleinanzeigen in Zeitschriften wie auch ein denunzierender Bericht über die lesbisch-schwule Subkultur eines Autors mit Namen Th. Böser im Volkswart zeigen eine beeindruckende Fülle von Damen-Gruppen des Bundes für Menschenrecht und/oder Treffpunkten bzw. Lokalen für lesbische Frauen (teilweise gemeinsam mit Schwulen) und relativieren die sich hartnäckig haltenden Äußerungen über die vermeintlich verschlafene Provinz. Für die Zeit Ende der Zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre lassen sich in folgenden Städten subkulturelle Strukturen nachweisen:80 in Breslau (Wrocław), Chemnitz, Düsseldorf, Essen, Forst (Niederlausitz), Frankfurt am Main, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, Königsberg (Kaliningrad), Leipzig, Liegnitz (Legnica), Magdeburg, Mannheim, Nürnberg, Stettin (Szczecin), Stuttgart, Weimar, Wiesbaden und in Zwickau. „Kleine offizielle Zirkel” soll es, so der Bericht des Volkswarts über Die homosexuelle Propaganda, darüber hinaus in Duisburg, Dortmund und Regensburg gegeben haben, „die zu Ortsgruppen des Bundes für Menschenrechte ausgebaut werden sollen”.81 Weiter heißt es über die homosexuelle Infrastruktur in kleinen und größeren Städten: „Mannheim hat eine Auskunftsstelle. Von den im Jahre 1925 infolge polizeilicher Maßnahmen zusammen gebrochenen Ortsgruppen sind noch nicht wieder erstanden: die Gruppen Forst (Lausitz), Braunschweig, Görlitz, Beuthen (Bytom), Liegnitz (erstanden und neuerdings wieder aufgelöst), Hannover, Karlsruhe, Bautzen, Bielefeld, Paderborn, München-Gladbach [sic], Barmen-Elberfeld, Bochum, Bonn, Wiesbaden, Mainz, Frankfurt (Oder), Königsberg und Danzig [Gdańsk]”.82 Selbst wenn der eine oder andere genannte Ortsname nicht korrekt sein sollte und die Menge sich eher aus dem gewollten Effekt eines Bedrohungsszenarios organisierter Homosexualität gespeist haben sollte, was beim Volkswart naheliegt, zeigt auch diese Liste eine beeindruckende Ausdifferenzierung schwuler und teils wohl schwul-lesbischer und auch lesbischer Subkultur in allen Teilen des damaligen Deutschlands, einschließlich kleinerer Städte. Doch wieder zurück in die Metropole der lesbisch-schwulen Subkultur. Seit 1. August 1923 unterhielt der inzwischen umbenannte BfM eine eigene Buchhandlung zunächst in der Kreuzberger Prinzenstraße 14, später in der Neuen Jakobstraße 9 in Berlin-Mitte, die „[s]ämtliche homoerotische, schöngeistige und wissenschaftliche ‚Fach’Literatur” führte. Ähnlich wie heute wurde auf Szene-Solidarität gesetzt: „Mitglieder, kauft eure Bücher nur in unserer Buchhandlung”, hieß es in einer Anzeige in den Blättern für Menschenrecht.83 Die Inserate verschiedener Geschäfte und Praxen in den einschlägigen Zeitschriften deuten auf den Versuch und die Möglichkeit hin, sich im Berlin der zwanziger Jahre auch im Alltag möglichst ‚lesbisch-schwul’ zu versorgen.84 Zeitschriften der Subkultur Eine Presse für Schwule wie die seit 1896 (mit Unterbrechungen) erscheinende Zeitschrift Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur, die der Gegenspieler Magnus Hirschfelds, Adolf Brand (1874-1945), herausbrachte85 und solche, die sich mehr oder weniger an männliche und weibliche Homosexuelle gleichermaßen richteten, wurden bereits genannt. In der Weimarer Republik gab es neben expliziten Schwulenblättern wie Die Insel auch sieben (bislang bekannte) Zeitschriften für lesbische Frauen, die, alle in Berlin verlegt, reichsweit vertrieben wurden: |
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BIF – Blätter Idealer Frauenfreundschaften: Monatsschrift für weibliche Kultur (1924-1927), Die Freundin (1924-1933), Ledige Frauen (Ersatzzeitschrift für die Freundin 1928/1929), Frauenliebe (1926-1930, ab 1930 nur noch Beiblatt der Garçonne), Frauen, Liebe und Leben (1928, möglicherweise nur zwei Mal erscheinende Ersatzzeitschrift während des Aushangverbots der Frauenliebe), Liebende Frauen (1927-1930) und Garçonne. Junggesellin (Nachfolgerin der Frauenliebe als Hauptzeitschrift 1930-1932). |
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In letztere Zeitschrift, deren Titel in etwa mit die „Knäbin“ übersetzt werden könnte, erschien ebenfalls wie in der Freundin regelmäßig eine Seite mit der Überschrift „Transvestiten“. Diese Extraseite wurde von Marie Weiß redigiert, aber nach einem halben Jahr kommentarlos eingestellt.86 Zensur Die notwendig gewordene Produktion von Ersatzzeitschriften illustriert, wie der seit 1872 geltende Paragraph 184 RStGB das Zeitungmachen erschwerte. Er ahndete mit Geld- oder Gefängnisstrafen oder mit einem Aushangverbot die Herstellung, den Verkauf, die Verteilung und/oder die Verbreitung sogenannter unzüchtiger Schriften. „Unzüchtig” war selbstredend ein dehnbarer Begriff. Auf der Grundlage des Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18. Dezember 1926 konnten homosexuelle Zeitschriften schließlich leicht zensiert, teilweise für ein komplettes Jahr unterdrückt und damit faktisch verboten werden. Davon zeugen auch die Stempel der Prüfstelle, die sich auf den wenigen überlieferten Ausgaben der Lesbenzeitschriften oftmals finden. Sobald mehr als zwei Nummern eines Jahres auf den Index gesetzt wurden, war es rechtlich möglich – und davon wurde rege Gebrauch gemacht – die periodische Druckschrift als solche zu zensieren.87 Die Ersatzzeitschriften waren der Versuch, weiterhin ein Medium am Markt zu halten und die Kommunikation unter Lesben (und Schwulen sowie TransvestitInnen) weiterzuführen. An der Zensur der homosexuellen Presse waren auch Frauen beteiligt, die wohl sogar selbst lesbisch gelebt haben wie Martha Mosse (1884-1977). Sie arbeitete zunächst als Hilfsreferentin in der Theaterabteilung des Polizeipräsidiums und wurde 1926 der erste weibliche Polizeirat. Ein Jahr darauf war sie für Jugendschutz zuständig und mit der Einhaltung des neu in Kraft getretenen „Gesetzes zur Schund- und Schmutzbekämpfung“ sowie mit der „Bekämpfung anstößiger Auslagen“ in Buchhandlungen und an Kiosken beschäftigt. In diesen Funktionen charakterisierte Martha Mosse Zeitschriften als „schmutzig“ oder „schundig“ und übergab sie den entsprechenden Ausschüssen zur Begutachtung. Sie übte diese Tätigkeit bis zu ihrer Zwangsentlassung als Jüdin durch das Berufsbeamtengesetz bis 1933 aus und da keine kritischen Äußerungen von ihr vorliegen ist vorerst davon auszugehen, dass „sie auch persönlich in Einklang mit dem Gesetz stand“.88 Die Freundin, die zumindest in Berlin nach Verlagsangaben am Kiosk und außerdem im Abo bezogen werden konnte, kostete zunächst 30, ab 1929 20 Pfennig. Der Umfang variierte zwischen acht und zwölf Seiten. Die Konkurrenzzeitschrift Garçonne glich ihren Preis an und konnte auch im Straßenhandel gekauft werden.89 Die Zeitschriften waren zumeist Organe der bestehenden Homosexuellenverbände. |
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Die als erste gegründete Freundin, gehörte zum BfM; die ersten beiden Nummern erschienen noch als Sonderbeilagen in den Blättern für Menschenrecht. Nach der Abspaltung der Konkurrenzorganisation DFV vom BfM erschien unter dessen Ägide eine weitere Zeitschrift für weibliche Homosexuelle mit dem Titel Frauenliebe für die beispielsweise Annette Eick (Jg. 1909) Gedichte und Kurzgeschichten beisteuerte.90 |
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Unabhängig von einem Verband publiziert wurden wahrscheinlich lediglich die BIF. Zu dieser selten erscheinenden Zeitschrift, die Selli Engler – unter der Adresse Grossbeerenstraße 74 III in Berlin Kreuzberg – herausgab, wurde zwischen 1925 und 1927 der Damen-Bif-Club eröffnet, der jeden Freitag im Roten Saal des Nationalhofs in der Bülowstraße 37 tagte und dem ebenfalls Engler vorgestanden haben soll.91 Der Einfluss, den die Verbände auf die Struktur und Inhalte der Zeitschriften nahmen, bleibt durch fehlende Quellen weiterhin recht unklar. Der Bund für Menschenrecht nahm sich offenkundig das Recht heraus, durch seinen Vorsitzenden Friedrich Radszuweit Leitartikel in der Lesbenzeitschrift Die Freundin zu platzieren. Nach seinem Tod 1932 übernahm Paul Weber diese Aufgabe.92 Jenseits dieser Männerstimmen waren die Lesbenzeitschriften ein Medium, sich unter homosexuellen Frauen zu verständigen. Zumeist gab ein Leserinnenforum die Möglichkeit zu Gegenrede, Zustimmung oder Ergänzung der im Blatt geäußerten Meinungen. Die Leserinnen sollten auch Autorinnen sein können. Das Profil der in der Regel wöchentlich oder monatlich erscheinenden Zeitschriften, die positive Identifikationsmöglichkeiten boten, war geprägt von Kurzgeschichten, Gedichten, Liedern, Fortsetzungsromanen, Briefen, des Weiteren von Fotos, Kleinanzeigen und Leitartikeln.93 Die Sachtexte – also Artikel und Leserinnenzuschriften – waren in den Zeitschriften im Verhältnis allerdings eher in der Minderzahl.94 Themen waren etwa Berufstätigkeit von Frauen, die Geschichte von Lesben, Überlegungen zum lesbischen Selbstverständnis, zu Beziehungsmodellen, Kampf um die Abschaffung des Paragraphen 175 und Bisexualität.95 Die Inserate verschiedener Geschäfte und Praxen in den einschlägigen Zeitschriften deuten auf den Versuch und die Möglichkeit hin, sich im Berlin der zwanziger Jahre auch im Alltag möglichst ‚lesbisch-schwul’ zu versorgen.96 In der erwähnten Buchhandlung des BfM/Radszuweit-Verlag in Mitte konnten sogar weitere Druckerzeugnisse der lesbischen und schwulen Subkultur sowie einschlägige Belletristik gekauft werden:97 Beispielsweise Sind es Frauen? Roman über das dritte Geschlecht von Minna Wettstein-Adelt (*1869), 1901 unter ihrem Pseudonym Aimée Duc veröffentlicht, oder Der Skorpion von Anna Elisabet Weirauch (1887-1970), der erstmals 1919 erschien. Neben der Lektüre bereicherten Filme entsprechenden Inhalts oder Passagen sowie Aufführungen subkultureller Theatergruppen von Lesben und Schwulen die Szene.98 Chiffriertes Selbstbewusstsein Nicht von ungefähr trug die Lesbenzeitschrift den Titel Die Freundin. Dieser Name verweist auf eine informelle kollektive Kommunikationsstruktur aus Chiffren und Codes, die sich Lesben (wie auch Schwule) seit der Jahrhundertwende aufzubauen begonnen hatten.99 Diese selbstbewussten, sub- oder gegenkulturellen Bezeichnungen umfassten u. a. Farbencodes (lila, violett) oder Blumensprache (Veilchen), Körperinszenierungen als Silhouetten und Symbol (Smoking, Monokel) wie auch topographische Spuren (Zürich, Berlin, Wien), die als Handlungsorte oder Zukunftsvisionen nachweislich in fiktionalen Texten auf lesbische Lebensformen verwiesen. Die Chiffren sind als Ausdrucksform eines lesbischen Selbstverständnisses zu begreifen, die eine (sub- oder gegen)kulturelle Welt konstituieren, stabilisieren und in der Kommunikation ausgestalten. Lesbische Kollektivität mit ihren eigenen Definitionen von „Wirklichkeit und Imagination“ drückt sich dabei in Symbolisierungen aus.100 Der Lesben-Code „Freundin” verfestigte seinen affirmativen Gehalt Mitte der zwanziger Jahre: „’Freundin” bezeichnete nicht nur ein Verhältnis – ‚Sie ist meine Freundin’ –, sondern vorrangig eine Identität ‚Sie ist eine Freundin’.” Um die Jahrhundertwende entwickelte die Chiffre „Anders als die Anderen” eine homosexuelle Ausprägung. Als Roman- und Filmtitel überschrieb sie „mann-männlichen Eigensinn”, wurde aber auch von Lesben rezipiert. Gegen etwaige einheitliche Sichtweisen auf homosexuelle Subkulturen sperrten sich jedoch die Freundinnen. So dichtete die Aktivistin Selli Engler Das Lied der Andern zur Melodie „Ich bin ein Preuße” um: „Seid mir gegrüsst. Ihr schönen edlen Frauen, die Ihr Euch stolz zur eignen Art bekennt.”101 Der umgeschriebene Text lässt sich als ein Versuch lesen, dem bereits existierenden lesbisch-schwulen Lila Lied selbstbewusst eine Lesbenvariante entgegenzustellen. Das Lila Lied, soll – so Ruth Margarete Roellig – das „Bundeslied” der „ganzen Bewegung”, also der lesbisch-schwulen, möglicherweise auch transvestitischen gewesen sein. Gesungen wurde das Lied in der subkulturellen „’lila Nacht’ von Berlin” und war dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld gewidmet. 1920 wurde es im Verlag Karl Schultz (Die Freundschaft) gedruckt; Liedtexter war Kurt Schwabach (1890-1966) und Komponist des gemächlichen Foxtrotts Mischa Spoliansky (1898-1985) unter seinem Pseudonym Arno Billing.102 Die sich hierin auch ausdrückenden Auseinandersetzungen um lesbisch-schwule Geselligkeit und Zusammenarbeit sind Ausdruck einer durchaus differenten Subkultur, nicht nur, aber wohl vor allem in der Spreemetropole und damit wohl auch von unterschiedlichen politischen und persönlichen Selbstverständnissen als homosexuelle Frauen und Männer. Eine Analyse der ‚zwischen’ den Geschlechtern stattfindenden Selbstverständigungsprozesse, etwaigen Abgrenzungen, Überschneidungen und Kooperationsfragen der „Transvestiten“ mit Lesben und Schwulen steht noch aus.
Christiane Leidinger (Berlin 2008) Zitationsvorschlag: | ||
1.2. Organisierung und PolitikDie frühe HomosexuellenbewegungDas Wissenschaftlich-humanitäre Komitee: Am 15. Mai 1897 wurde durch den Arzt Magnus Hirschfeld, den Verleger Max Spohr, den Schriftsteller und früheren Militärangehörigen Franz-Josef von Bülow sowie den Beamten Eduard Oberg in Berlin-Charlottenburg die erste politische Schwulenorganisation der Welt gegründet: Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK). Das Ziel war einfach benannt: Die Emanzipation der Schwulen (und Lesben). Dass der Weg dahin etwas länger dauern würde, war klar, aber die Herren waren entschlossen. Die Mittel waren Organisierung der Homosexuellen, Aufklärung der Fachwelt und der Bevölkerung und politische Einmischung. Der erste Schritt war eine Petition zur Abschaffung des Paragrafen 175 StGB. Es handelte sich um jenen berüchtigten Paragrafen, der zwar nur bestimmte homosexuelle Handlungen ("beischlaf-ähnliche") verbot, was aber doch dafür sorgte, dass Schwule kriminalisiert waren und die allgemeine Meinung vorherrschte, Homosexualität sei generell verboten. Neben der Gefahr der Bestrafung bewirkte der Paragraf ein Heer von Erpressern, die den Schwulen das Geld abnahmen. Zeitgenössische Schätzungen gingen davon aus, dass fast jeder Schwule schon mindestens einmal in seinem Leben erpresst worden war; manche über Jahre hinweg, manche bis zum völligen Ruin. Viele Opfer der Erpressung begingen Selbstmord, weil sie keinen Ausweg mehr sahen. Zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten, war nicht nur wegen der Gefahr selbst wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 175 angeklagt zu werden, nicht ratsam, es war auch aus persönlichen Gründen kaum möglich. Die wenigsten Schwulen waren selbstbewusst und stolz, so zu sein, im Gegenteil: vielen war es peinlich, sie litten darunter, verdrängten es, spalteten es von sich ab, um dann doch wieder im dunklen Park oder der Rotunde (berlinerisch für öffentliches Stehpissoir) schwach zu werden. Für die Erpresser war es ein lukratives Geschäft. Zur Agitation des WhK gehörten Vorträge und Publikationen. Die Schriften von Karl Heinrich Ulrichs wurden wieder aufgelegt; dann brachte man das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen heraus, ein wissenschaftliches Fachorgan über Homosexualitätsforschung, das bis 1923 erschien und in seinen besten Jahren bis zu 1000 Seiten umfasste. Aufklärungsbroschüren wie "Was das Volk vom 3. Geschlecht wissen muss" wurden regelmäßig gedruckt und massenhaft verbreitet. Die Begriffe Zwischenstufe und 3. Geschlecht nehmen auf eine Theorie Hirschfelds Bezug (dessen Vordenker aber Karl Heinrich Ulrichs war), wonach die Homosexualität angeboren sei, so dass Lesben und Schwule quasi ein Zwischengeschlecht bildeten. Hirschfeld ging von seelisch-körperlichen Übergängen aus. Der homosexuelle Mann habe eher weibliche körperliche wie seelische Eigenschaften, die homosexuelle Frau sei männlicher als das heterosexuelle "Vollweib". Diese Theorie hatte den großen Vorteil, dass man argumentieren konnte: Was angeboren ist, kann nicht verboten werden. Hirschfelds Theorie aber war keineswegs nur Strategie. Er war von ihr überzeugt und suchte Zeit seines Lebens, sie zu beweisen, was in den zwanziger Jahren bis hin zu Körpervermessungen aufgrund angeblich typischer Eigenschaften führte. Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee und seine Gründer hatten eine Vorgeschichte. Magnus Hirschfeld1, selbst schwul, obwohl er sich zeitlebens in der Öffentlichkeit nicht dazu bekannte, war nach eigenen Angaben durch den Prozess gegen den englischen Dichter Oscar Wilde und dem Selbstmord eines seiner homosexuellen Patienten aufgerüttelt worden. Er veröffentlichte 1896 im Verlag Max Spohr, Leipzig, seine erste Schrift zur Homosexualität "Sappho und Sokrates". Der heterosexuelle Verleger Max Spohr2 hatte zahlreiche Titel über Spiritualität und Lebensreform im Angebot und brachte schon früh einige Schriften über Homosexualität auf den Markt. Meist waren diese Autoren wiederum von Karl Heinrich Ulrichs beeinflusst. Der andere Gründervater Eduard Oberg nahm aufgrund der Lektüre von Hirschfelds "Sappho und Sokrates" Kontakt zu Spohr und durch dessen Vermittlung zu Hirschfeld auf. Franz-Josef von Bülow, der vierte im Bunde wurde vom Polizeiinspektor und Chef der Abteilung für Sittlichkeitsdelikte der Berliner Polizei, Leopold von Meerscheidt-Hüllessem3, zur Gründung des WhK geschickt. Meerscheidt-Hüllessem hatte schon mit den Psychiatern Richard von Krafft-Ebing und Albert Moll in Kontakt gestanden, die erste umfassende wissenschaftliche Werke zur Homosexualität veröffentlicht hatten. Außerdem kannte er den Schriftsteller und Chefredakteur von "Westermanns Monatsheften" Adolf Glaser, der wiederum mit Karl Heinrich Ulrichs in Verbindung gestanden hatte. Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee existierte bis 1933. In den frühen Jahren gibt es einige Bezüge zu Kreuzberg, insgesamt aber war das WhK eine bürgerlich-akademische Vereinigung des Berliner Westens: Tiergarten, Schöneberg und Charlottenburg. Von 1903 bis 1905 hielt das WhK Versammlungen im Hotel Prinz Albrecht (bis 1902: Hotel Vier Jahreszeiten) in der Prinz-Albrecht-Straße 9 (heute: Niederkirchnerstraße) ab. Ab 1934 residierte in dem Gebäude die "Reichsführung SS". Am 5. Juli 1903 fand eine Halbjahreskonferenz des WhK dort statt.4 Vom 8. bis 9. Oktober 1904 wurde jene Jahreshauptversammlung abgehalten, auf der die im Kapitel "In Berlin scheint allerdings auch mir ein Hauptsitz der Uranier zu sein" erwähnte Rede zur Frauenfrage von Anna Rüling gehalten wurde.5 Die Jahreshauptversammlungen waren gut besucht. Vom 7. bis 8. Oktober 1905 kamen immerhin 300 "Teilnehmer" zusammen (wie viele Teilnehmerinnen es waren, ist nicht bekannt).6 Magnus Hirschfeld hielt verschiedene Vorträge in der Luisenstadt u. a. in der "Neuen Philharmonie", Köpenicker Straße 96/97 (ab 1920: Stadtbezirk Mitte). Besitzer der Neuen Philharmonie war Karl Keller, weswegen sie auch einfach als "Kellers Festsäle" bezeichnet wurde. Im Dezember 1903 veranstaltete die Volkswissenschaftliche Vereinigung unter dem Vorsitzenden H. Lichte dort einen öffentlichen Vortrag zur homosexuellen Frage mit Magnus Hirschfeld. Es waren 500 Gäste anwesend.7 Am 6. Oktober 1910 organisierte die Gesellschaft für volkstümliche Vorträge unter dem Vorsitzenden C. Griesbach einen öffentlichen Vortragsabend mit Hirschfeld in der Neuen Philharmonie. Thema: Das geschlechtliche Elend unserer Zeit.8 Einige der führenden Köpfe des WhK waren Kreuzberger. In den Monatsberichten des WhK wird 1907 der Buchdruckereibesitzer Siegfried Gabriel genannt.9 Er war Kassenrevisor und gehörte dem Obmann-Kollegium an, einem Kreis vorwiegend bekannter Persönlichkeiten, mit denen sich das WhK schmückte. Gabriel war spätestens seit 1903 Mitglied im WhK und gehörte ihm – soweit nachweisbar – bis 1907/08 an.10 Er ist, im Gegensatz zu vielen anderen Mitgliedern, immer "offen" aufgetreten. 1914 ist unter den Beitragszahlern ein "S. G." verzeichnet11, vermutlich ist dies noch ein Hinweis auf ihn. Weitere Aktivitäten innerhalb des WhK sind nicht belegbar. Gabriel wohnte seit circa 1902 in der Gitschiner Straße 95/Ecke Alexandrinenstraße 1, also mitten im schwul-lesbischen Kiez. Im Berliner Adressbuch wird er noch bis 1912 mit der Berufsbezeichnung Kaufmann geführt, ab 1910 hatte er einen Telefonanschluss. Ab 1913 ist er als Buchdruckereibesitzer verzeichnet. Vermutlich gehörte ihm die im selben Haus ansässige Buchdruckerei "Dzubas + Hanke", denn Gabriel zieht 1915/16 mit seiner Druckerei in die Alexandrinenstr. 93 und "Dzubas + Hanke" tauchen dann ebenfalls nicht mehr in der Gitschiner Straße auf. Siegfried Gabriel nannte seine Firma jetzt offiziell "Buch- und Kunstdruckerei, Kontorutensilien und Schreibwaren". Auch Eduard Oberg, das Gründungsmitglied des WhK, wohnte ab 1910 in Kreuzberg. Er kam eigentlich aus Hamm in Westfalen und war Jurist, dann Verwaltungsbeamter. Er war "ein wenig schroff und mürrisch von außen, in seinem Innern aber überaus bieder und gesinnungstüchtig", wie Hirschfeld ihn charakterisiert, "ein echter Sohn des Westfalenstammes".12 Er war selbst schwul und nahm als 38-jähriger, ausgelöst durch Hirschfelds Schrift "Sappho und Sokrates", zunächst Kontakt mit Max Spohr, mit dem sich ein intensiver Briefwechsel entwickelte, und dann mit Hirschfeld selbst auf. 1897 gehörte er zu den vier Gründern des WhK, arbeitete aber aufgrund seiner beruflichen Position "hinter den Kulissen". Kurz nach 1897 wurde er dienstlich nach Hannover versetzt und um 1909/10 zog er nach Berlin in die Hagelberger Straße 21.13 Am 1. Oktober 1917 beging er im Alter von 59 Jahren Selbstmord. Hirschfeld schrieb dazu: "Den Schrecknissen und Entbehrungen des Krieges war er nicht gewachsen. Als der furchtbare Kohlrübenwinter über Berlin hereinbrach, als er seinen Freunden draußen im Schützengraben nichts mehr schicken konnte, als er sich mit Hunderten von Notleidenden, um ein wenig Milch oder Brot zu erhalten, stundenlang anstellen mußte, verzagte er. Unfähig seinen urnischen Schicksalsgenossen, noch unfähiger seinen Volksgenossen Frieden zu verschaffen, wollte der auf Erden Friedlose wenigstens selber Frieden haben".14 Oberg wurde am 8. Oktober auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde beerdigt. Georg Plock, der Sekretär des WhK, hielt eine Trauerrede. Ein anderer Kreuzberger war Kurt Hiller. Er wurde zwar schon 1908 Mitglied im WhK, gehörte aber erst der zweiten Generation von Aktiven in den zwanziger Jahren an. Hiller wurde am 17. August 1885 in der Wilhelmstraße 12 geboren. Sein Geburtshaus, bereits 1820 erbaut aber mehrere Male komplett umgebaut, überstand als eines der wenigen Häuser in der Wilhelmstraße den Krieg und den Kreuzberger Abrisswahn in den 1970er Jahren. Es ist heute komplett saniert und in ein Ensemble von Neubauten integriert. Die Familie Hiller wohnte hier jedoch nur bis etwa 1886/87 und zog 1887 ein paar Häuser weiter in die Wilhelmstraße 18 (dieses Haus steht heute nicht mehr). Hiller besuchte von 1891 bis 1903 das Askanische Gymnasium in der Halleschen Straße 24-26, "zehn Kinderminuten entfernt von unserem Haus".15 Um 1896 zogen die Hillers nach Schöneberg. Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat an dem Haus Hähnelstraße 9 eine Gedenktafel anbringen lassen und im Jahr 2000 einen Park am U-Bahnhof Kleistpark nach Kurt Hiller benannt. Hiller studierte von 1903 bis 1907 in Berlin und Freiburg Rechtswissenschaft und Philosophie und promovierte in Heidelberg zum Dr. jur. Er war nicht nur Jurist, sondern auch Schriftsteller und Kabarettist. 1922 erschien sein Buch "§ 175: Die Schmach des Jahrhunderts". Er war einer der Hauptautoren der Weltbühne sowie Mitglied und aktiver Streiter in der Deutschen Friedensgesellschaft. 1921 wurde er stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, 1926 dessen 2. Vorsitzender. Er war maßgeblich am "Aktionsausschuss zur Reform des Sexualstrafrechts" beteiligt, dem es neben anderen Kräften zu verdanken ist, dass 1929 der Rechtsausschuss des Reichstages dem Parlament eine Reform des § 175 vorschlug. 1933 kam Hiller mehrmals in Haft und schließlich von Juli 1933 bis April 1934 nach Oranienburg in jenes Konzentrationslager, in dem Männer wie Erich Mühsam oder Theodor Lessing umgebracht wurden. Im September 1934 gelang ihm die Flucht nach Prag und schließlich 1938 nach London. 1955 kehrte er nach Deutschland zurück, ließ sich in Hamburg nieder, engagierte sich wieder in literarischen und pazifistischen Kreisen und versuchte auch eine Neugründung des WhK umzusetzen, die jedoch scheiterte. Hiller starb am 1. Oktober 1972 in Hamburg. Er war zeitlebens nie offen schwul und verfügte, dass der zweite Band seiner Memoiren ("Eros") erst nach seinem Tod erscheinen dürfe.16 Die Gemeinschaft der Eigenen: Die GdE spielte in Kreuzberg erst in den zwanziger Jahren eine Rolle, ihre Gründungsgeschichte reicht jedoch bis in die Kaiserzeit zurück. Zwischen 1896 und 1897 brachte der Charlottenburger Adolf Brand (geb. 1874) die ersten Ausgaben der Zeitschrift "Der Eigene" heraus. Obwohl noch nicht explizit "schwul", sondern nur zwischen den Zeilen angedeutet, war doch damit der Grundstein für die erste Schwulenzeitung gelegt, die mit Unterbrechungen bis 1932 von Brand herausgegeben wurde. Adolf Brand und sein Kreis, der sich ab 1903 "Gemeinschaft der Eigenen" nennen sollte, war vom Anarchismus Max Stirners und dessen Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum" (Leipzig 1845) beeinflusst. Brand war Kämpfer, Literat, Poet, Fotograf und Verleger in einem. Die GdE war ein seltsames, um nicht zu sagen bizarres, Sammelsurium von Individualisten, Idioten, aber auch radikal kämpfenden Männern. Neben der anarchistischen Strömung vereinte sie die Idee einer – so interpretierten – griechischen Männerherrschaft, in der die Päderastie (Liebe zum geschlechtsreifen Knaben, Jünglingsliebe) im Sinne des pädagogischen Eros verstanden wurde und die Bekämpfung der – so genannten – "Weiberherrschaft" Programm war. Ebenso vehement vertraten sie eine Strömung, die ein germanisch-nationales Moment hatte und antisemitisch war. Obwohl es später sicherlich Sympathien für die Nazis gab, war diese Strömung trotzdem nicht nationalsozialistisch; dagegen standen die Homosexualität, der Anarchismus und die freigeistigen und lebensreformerischen Ansätze. Im Gegensatz zu Hirschfeld war Brand immer offen schwul. 1900 wegen der Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt, mussten er und der Autor Hanns Heinz Ewers Geldstrafen bezahlen. 1903 musste er wegen eines ähnlichen Delikts sogar für zwei Monate ins Gefängnis. Sein Verleger war damals übrigens Max Spohr, der ebenfalls zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. 1907 bezichtigte Brand den Reichskanzler von Bülow der Homosexualität und wurde deswegen wieder zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Vermutlich hätte er sich bei diesem Gerichtsprozess mehr Rückhalt durch Hirschfeld und das WhK gewünscht. Dort hatte man jedoch wegen des Eulenburg-Prozesses schon genug Ärger am Hals und wollte sich nicht für einen solchen Querschießer einsetzen. Obwohl es in den zwanziger Jahren kurzfristig zu einer Zusammenarbeit kam, entwickelte sich zwischen beiden Organisationen eine Feindschaft, die durch Hähme und unfaire und denunziatorische Mittel eindeutig von der GdE geschürt wurde. Zur GdE und ihrem Umfeld gehörten neben dem schon erwähnten Hanns Heinz Ewers auch der Schriftsteller John Henry Mackay, Benedict Friedländer, Otto Kiefer und der Maler Fidus (d.i. Hugo Höppener). Die Stammadresse der GdE war lange Charlottenburg, dann Friedrichshagen bei Köpenick. Zu Kreuzberg gibt es zahlreiche Bezüge, die im Kapitel über die Weimarer Zeit dargestellt werden. Ein treues Mitglied der GdE aber auch des WhK war Max Wipperling, über dessen Lebenslauf bis heute, trotz seiner Bedeutung, nur Bruchstücke bekannt sind. Vermutlich deshalb, weil er darauf bedacht war, seine wahre Identität verborgen zu halten. In Schwulenkreisen und in der Öffentlichkeit trat er nur unter dem Pseudonym Caesareon auf, als Max Wipperling war er im produzierenden Gewerbe Kreuzbergs tätig. Von 1905 bis 1911 war er Prokurist einer Firma in der Gneisenaustraße 45. Vermutlich war es diese Firma, die 1912 in die Fichtestraße 19a umzog. Auch hier war er bis 1924 als Prokurist tätig. Das Berliner Adressbuch führt ihn von 1925 bis 1927 als Fabrikdirektor jener Firma und von 1928 bis 1932 sogar als Fabrikbesitzer. 1933 wurde er als kaufmännischer Direktor bezeichnet, 1934 als Handelsvertreter, 1935 bis 1937 Bleistiftfabrikant. Zwischen 1938 und 1943 wird er abwechselnd als Handelsvertreter oder Fabrikant in den Adressbüchern geführt. Der schwulenbewegte Max Wipperling ist unter seinem Pseudonym Caesareon von etwa 1902 bis vermutlich 1933 Mitglied im Wissenschaftlich-humanitären Komitee.17 Schon an der 2. Halbjahreskonferenz des WhK am 5. Juli 1903 im Hotel Prinz Albrecht nahm er teil.18 Auf der Weihnachtsfeier am 21. Dezember 1921 hielt er einen Vortrag mit dem Titel "Fest auf Munknaes".19 Ebenso gehörte er 1903 zu den Gründungsmitgliedern der "Gemeinschaft der Eigenen", die sich als Verein um Adolf Brand zusammenschloss.20 Caesareon wird zum regelmäßigen Autor in "Der Eigene". Fast in jeder Ausgabe findet sich ein Beitrag von ihm. 1903 veröffentlichte er den "Brief an eine Mutter"21, von dem man annehmen kann, dass er in dieser oder ähnlicher Form wirklich so geschrieben wurde, zumindest aber stark autobiographische Züge trägt. Er beichtet darin seiner Mutter seine Homosexualität: "Ja, von den Anderen bin ich einer, Mutter, von den Anderen in der Liebe. Verstehe mich! Ich liebe wie ihr, ich liebe mit grenzenloser Innigkeit, zärtlich, aufopfernd, leidenschaftlich, wild, groß, heilig – wie ihr, und doch nicht wie ihr! Wie ihr und doch ganz anders." Erst berichtet er von seiner wohl ersten Liebe Oskar: "Er war wie die jäh aufgegangene Knospe einer dunkelsammetnen Rose, o, er war die Schönheit selbst, die blühende leuchtende, er war die Jugend selbst, die lachende, wilde (...)." Dann berichtet er von Filippo, den er auf einer Reise nach Rom kennengelernt hatte. "Nun wohl, liebe Mutter, mit diesem wundervollen Jüngling verbanden mich unvergeßliche Erinnerungen. Freuden, wie wir sie lebten in weihevollen, feierlichen Nächten, die kehren nicht wieder, doch sie sind fürs Leben gelebt, sie sind ein Leben für sich." Caesareon soll Anfang der zwanziger Jahre sogar einen Film gedreht haben: "Dem Reinen ist alles rein". Über dessen Inhalt oder Verbleib ist jedoch nichts bekannt. Ein anderes Bindeglied zwischen dem WhK und der GdE war Prof. Dr. Karl Friedrich Jordan. Zunächst wohnte er im Bezirk Mitte, ab 1898 für zehn Jahre in der Madaistraße 3 (heute Erich-Steinfurth-Straße) in Friedrichshain. Von 1909 bis 1913 lebte er in Treptow und ab 1914 bis zu seinem Tod 1926 am Kottbusser Ufer 17 (heute Paul-Lincke-Ufer) in Kreuzberg. Jordan wurde 1862 als Sohn eines Beamten in Berlin geboren. Sein Abitur legte er an der Werderschen Oberrealschule ab und studierte dann Naturwissenschaften, mit den Schwerpunkten Physik, Botanik und Mathematik. Er promovierte in Halle über Blütenbiologie. Zwischen 1886 und 1887 leistet er seinen Militärdienst ab. Er war zunächst Oberlehrer, dann Professor an einem Realgymnasium und einer höheren Mädchenschule. 1908 wurde er Privatier und widmete sich seinen schriftstellerischen Tätigkeiten. Er schrieb für die Zeitschriften Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Natur, Gäa und "Kosmos" und veröffentlichte ein Lehrbuch der Physik. Zugleich ist er auch regelmäßiger Autor der Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen, der Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Der Eigene von Adolf Brand, von "Geschlecht und Gesellschaft" von Reitzenstein und der Homosexuellenzeitschrift Die Freundschaft. Außerdem schrieb er Festspiele, hielt Vorträge und schrieb für die Tageszeitung Freie Presse. Vor 1908 trat er in Zusammenhang mit homosexuellen oder sexualwissenschaftlichen Veröffentlichungen unter den Pseudonymen "Max Katte" und "Dr. phil. Arduin" auf. Aber auch seine inoffizielle Lebensgeschichte ist überliefert: Im Jahr 1900 veröffentlichte er im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen von Hirschfeld unter "Max Katte" den Aufsatz: "Aus dem Leben eines Homosexuellen".22 Ausdrücklich bietet er sich mit diesem Aufsatz "(...) als Objekt der Beobachtung oder, um den Mund noch voller zu nehmen der Forschung dar, bitte aber, unbefangen und ohne Vorurteil zu bedenken und zu prüfen, was ich über mich sage." Katte/Jordans Aufsatz gehört damit zu jener Bekenntnisliteratur, die um die Jahrhundertwende versucht, deutlich zu machen, dass Homosexuelle ebenso normal und vollwertig sind und nicht abartige Wesen, als die sie oft dargestellt wurden. Solch eine Veröffentlichung in jener Zeit setzte einigen Mut voraus: "Fast möchte' ich, indem ich damit beginne, wieder davon absehen; denn was ich durchlebt und was ich hier schildern will, es ist so eigenartig und so intim, dass ich mich scheue, es der Öffentlichkeit preiszugeben." Er bekennt, dass er sich nie zu Frauen hingezogen fühlte. Sein Interesse und seine Schwärmerei für gleichaltrige Mitschüler begann mit 8 Jahren und im Alter von 14 Jahren machte er erste gleichgeschlechtliche Erfahrungen mit einem Mitschüler und verliebte sich in diesen. Mit 19 liebte er ihn immer noch, obgleich die Liebe nicht erwidert wurde da "er anderer Natur war als ich". Jordan berichtet dann ausführlich, dass er lange von zwei Männern erpresst worden war. Er stand in dieser Zeit kurz vor dem Selbstmord, aber er nahm dann vermutlich Kontakt zum WhK auf, denn es wurde ihm dringend geraten, die Erpressung anzuzeigen. Er tat es, und die beiden Erpresser wurden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Solcherlei Schilderungen waren damals Überlebenshilfen, denn nicht wenige Schwule befanden sich in einer ähnlichen Situation. Im selben Jahrbuch veröffentliche Jordan unter "Dr. phil. Arduin" einen Aufsatz über die Frauenfrage.23 Der Aufsatz ist ein spannendes aber in sich widersprüchliches Dokument über die Ansichten eines homosexuellen Mannes der damaligen Zeit zu diesem Thema. Zunächst referiert er die klassische Frage, ob Frauenemanzipation eine wichtige oder nebensächliche Gesellschaftsfrage sei: Ist die Frauenfrage eine soziale Frage und müsse deswegen Priorität haben, oder geht es primär um die zu verändernden wirtschaftlichen Verhältnisse, die Emanzipation der Frau also sekundär ist? Dann argumentiert er zunächst klassisch antifeministisch: Der Mann sei der Frau körperlich und geistig klar überlegen, er repräsentiere die Kultur, sie die Natur. Schließlich leitet er zu den Homosexuellen über und unterscheidet vier Gruppen: 1. Homosexuelle Männer, die sich als Mann fühlen und deren Liebe sich daher auf Männer mit weiblichem Wesen, vor allem auf Jünglinge und jüngere Männer richtet. 2. Homosexuelle Männer, die die Rolle der Frau annehmen und die deswegen nach vorwiegend männlich entwickelten Männern Verlangen haben. 3. Homo-sexuelle Frauen, die die Rolle des Mannes annehmen und dem gemäss sehr weibliche Frauen bevorzugen. 4. Homosexuelle Frauen, die sich wahrhaft als Frau fühlen und darum zu männlich angelegten Individuen des weiblichen Geschlechts Neigung haben. Wegen dieser Einteilung kommt Jordan zu der bemerkenswerten Feststellung: "Es handelt sich bei der Frauenfrage um zweierlei, und zwar deshalb, weil der Begriff Frau (ebenso wie der Begriff Mann) kein schlechthin einheitlicher ist." Damit nun die "männlichen" homo-sexuellen Frauen ihrer „Natur" gemäß sich entfalten können, sei allen Frauen der Zutritt zum Berufsleben zu ermöglichen und insofern seien die Forderungen der Emanzipationsbewegung völlig berechtigt. Jordan ist ebenfalls Teilnehmer jener bereits erwähnten Halbjahreskonferenz im Hotel Prinz Albrecht im Jahre 1903.24 1909 wird er zum beisitzenden Vorstand des WhK gewählt25, außerdem wird er Mitglied im so genannten Obmann-Kollegium, das eine Art Berater- und Repräsentationszirkel innerhalb des WhK war. Jordan hielt regelmäßig Vorträge auf WhK-Versammlungen und ab 1919 auch im Institut für Sexualwissenschaft. Seine Themenpalette reichte vom „Geschlechtsleben der Pflanzen" über „Richard Wagner" bis zu „Sadismus-Masochismus". Besonders beschäftigte er sich mit geistigen und religiösen Fragen im Zusammenhang mit Sexualität. Er kann außerdem als ein wichtiger Unterstützer von Hirschfelds Zwischenstufentheorie gelten. Jordan war ebenfalls Mitglied der Gemeinschaft der Eigenen und vertrat diese ab 1920 im "Aktionsausschuss zur Abschaffung des § 175", einem Gremium aller drei Homosexuellenorganisationen der Weimarer Republik. Auch für die GdE hielt er Vorträge und inszenierte Theaterstücke. Am 22. September 1922 veranstaltete das WhK eine Feier zu seinem 60. Geburtstag.26 Vier Jahre später starb Karl Friedrich Jordan an den Folgen einer nicht bekannten Krankheit.27 Lesbenvereinigungen: Politisch arbeitende Vereinigungen lesbischer Frauen sind bislang für die Kaiserzeit nicht belegt. Wohl aber gab es Gesellschaftsclubs und private Zirkel, über deren Struktur und Aktivitäten jedoch ein großes Forschungsdefizit zu konstatieren ist. Der Verein "Goldene Kugel", der schon in der Kaiserzeit aktiv war, hatte für Kreuzberg in den zwanziger Jahren eine wesentliche Bedeutung und wird im Abschnitt über die Weimarer Zeit vorgestellt. © Jens Dobler (Berlin 2003)
Korrigierter und leicht gekürzter (Kapitelbezüge innerhalb des Buches) Republish ohne Abbildungen aus: Jens Dobler: Von anderen Ufern – Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain. Berlin: Gmünder Verlag 2003, S. 32-40.Text zum Download1 Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen (MännerschwarmSkript, Hamburg 2. Auflage 2001).2 Marc Lehmstedt: Bücher für das „dritte Geschlecht“. Der Max Spohr Verlag in Leipzig. Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881-1941), (Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte Bd. 14, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2002).3 Jens Dobler: Leopold von Meerscheidt-Hüllessem (1849-1900), in: Archiv für Polizeigeschichte 9. Jg., 1998, Nr. 26, S. 73-78.4 Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 2. Jg., April 1903.5 Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 3. Jg., September 1904 und: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 3. Jg., November 1904.6 Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 4. Jg., Juli 1905 und: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 4. Jg., September 1905 und: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 4. Jg., Oktober 1905 und: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 4. Jg., November 1905.7 Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 2. Jg., Dezember 1903.8 Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Jg. 1910, S. 118, vgl. auch LAB A Pr Br Rep. 30, Tit. 74, Nr. Th1644.9 Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 6. Jg., März 1907.10 Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Jg. 5 (1903) S. 1357, 6 (1904) S. 731, 7 (1905) S. 1070, 8 (1906) S. 927.11 Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Jg. 14 (1914) S. 382.12 Magnus Hirschfeld: Von einst bis jetzt (Berlin 1986), S. 50.13 Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung (Eine Ausstellung des Schwulen Museums und der Akademie der Künste 17. Mai bis 17. August 1997), S. 38.14 Magnus Hirschfeld: Von einst bis jetzt (Berlin 1986), S. 50-51.15 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (Logos), (Rowohlt, Reinbek 1969), S. 25. Vgl. auch: Klepper, Peter: 125 Jahre Askanisches Gymnasium und Askanische Oberschule 1875 bis 2000 (Verlag Askanische Oberschule, Berlin 2000) S. 33-35, 38.16 Weitere Informationen zu Hiller: Kurt Hiller Gesellschaft: www.hiller-gesellschaft.de.17 Nachweis Über die Beitragsabrechnungen der Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen.18 Emanzipation hinter der Weltstadt. Adolf Brand und die Gemeinschaft der Eigenen. Katalog zur Ausstellung vom 7. Oktober bis 17. November 2000 in Berlin-Friedrichshagen (Hg.: Marita Keilson-Lauritz und Rolf F. Lang), Berlin 2000, S. 202-203.19 Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 22. Jg., 1922, S. 107.20 Manfred Herzer: Adolf Brand und Der Eigene, in: 100 Jahre Schwulenbewegung, S. 50.21 Der Eigene 4. Jg., 1903, S. 185-188.22 Max Katte (d.i. Karl Friedrich Jordan): „Aus dem Leben eines Homosexuellen“, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Jg. 2, 1900, S. 295ff.23 Arduin (d. i. Karl Friedrich Jordan): „Die Frauenfrage und die sexuellen Zwischenstufen“, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Jg. 2, 1900, S. 211-223.24 Emanzipation hinter der Weltstadt. Adolf Brand und die Gemeinschaft der Eigenen (Berlin 2000), S. 202.25 Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Jg. 10, 1909, S. 441.26 Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Jg. 23, 1923, S. 199.27 Die Freundschaft 8. Jg., 1926, Nr. 10.Zitiervorschlag:
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Der Bund für MenschenrechtNeben den seit der Kaiserzeit bestehenden Homosexuellenorganisationen Wissenschaftlich-humanitäres Komitee (WhK) und der Gemeinschaft der Eigenen (GdE) gesellte sich in der Weimarer Zeit eine neue lesbisch-schwule Organisation, die sich als einzige zu einer wirklichen Großvereinigung entwickeln sollte: Der Bund für Menschenrecht, abgekürzt: BfM. Die Geschichte und Entwicklung des BfM ist von so vielen Intrigen, Unterorganisationen, Arbeitsgruppen und kooptierten Vereinen und Clubs durchzogen, dass sie in einem Kapitel nicht vollständig dargestellt werden können. Wir zeichnen hier die Hauptlinie des BfM nach und nur jene Aktivitäten werden vorgestellt, die für Kreuzberg und Friedrichshain von Relevanz sind.1 Neben dem WhK und der GdE gab es für Lesben, aber auch für Schwule, bereits in der Kaiserzeit private Clubs, halböffentliche Zirkel und Freizeitvereine. Leider ist über ihr Wirken während der Kaiserzeit so gut wie nichts bekannt, da es außer der Zeitschrift Der Eigene (die naturgemäß nur über die GdE berichtete) noch keine eigenen Zeitschriften gab. Diese verschiedenen Gruppen werden heute von der Homosexuellenforschung zusammenfassend als Freundschaftsvereine bezeichnet. Sie dürften auch während des Ersten Weltkrieges bestanden haben, denn bereits 1919 gab es landesweit eine große Anzahl von Vereinigungen, die sich im Deutschen Freundschafts-Verband (DFV) zusammengeschlossen hatten. Neben Berliner Gruppierungen gehörten Vereinigungen aus Krefeld, Frankfurt am Main, Hamburg, Karlsruhe, Kiel, Mönchengladbach, Saarbrücken, Stettin und Weimar zum DFV.2 Das Hauptziel des DFV war die "Befreiung aller Invertierter von gesetzlicher und gesellschaftlicher Verfehmung", eine Forderung, die bewusst weiter gefasst wurde als 'nur' die Abschaffung des Paragrafen 175. Im Vereinsstatut heißt es weiter: "Eine Organisation, die ernst genommen werden will, hat nicht die Aufgabe für 'Nacktkultur' zu wirken (das verbieten schon taktische Erwägungen). Sie muss bestrebt sein, möglichst alle gutgearteten Invertierten zu erfassen und ihnen Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen (...)".3 Der Sitz des DFV war in Kreuzberg. Zunächst befand sich das Vereinsbüro in der Alexandrinenstraße 8 beim Verlag Karl Schultz, der u. a. Die Freundschaft herausgab, die zeitweilig offizielles Vereinsorgan des DFV war. Nach dem Umzug des Schultz-Verlages im Mai 1920 zum Planufer 5 zog der DFV mit und bekam dort zwei Büroräume zur Verfügung gestellt. Ab Januar 1921 ging die Geschäftsstelle des DFV an die Privatadresse des Vorsitzenden Wilhelm Dillmann in die Brandenburgstraße 78/79 (heute: Lobeckstraße). In diesem Gebäude war die 57. und 72. Gemeindeschule von Kreuzberg untergebracht, wo der Handelsgehilfe Dillmann wohnte. Eventuell handelte es sich um eine Hausmeisterwohnung. Dillmann war dort bis 1922 wohnhaft, solange war die Adresse auch der Vereinssitz. Der DFV war ein Dachverband, aber selbst kein offiziell eingetragener Verein gewesen. Der angegliederte Berliner Regionalverein hieß "Berliner Freundschaftsbund e. V" und wurde am 15. September 1919 gegründet. Der offizielle Eintrag ins Vereinsregister erfolgte am 28. September 1920 unter der Nummer 3001.4 Erster Vereinssitz war die Große Frankfurter Straße 138 (bei v. Saleski) in Friedrichshain. Zum ersten Vorstand wurden Albert Eggert und Hans Schmainta (Hollmannstraße 9, Kreuzberg) gewählt. Schriftführer wurden Wilhelm Dillmann aus der Brandenburgstraße 78/79, der bereits Vorsitzender des DFV war, und ein Herr Strutz. Kassierer wurde Herr Monath (vermutlich Bernhard Monath, Kaufmann aus der Muskauer Straße 24 in Kreuzberg), der bald von Herrn von Saleski (Große Frankfurter Straße 138, Friedrichshain) abgelöst wurde. Zweiter Kassierer war Otto Sommer (Paul-Singer-Straße 2, Friedrichshain). Auf der Vereinsversammlung am 7. Januar 1921 wurde ein neuer Vorstand gewählt. Erster Vorsitzender wurde Carl Terlicher, der Inhaber des Restaurants in der Alten Jakobstraße 49 (wohnhaft: Jerusalemer Straße 60 in Kreuzberg) und Karl Sieg (wohnhaft am Schöneberger Ufer 48 in Tiergarten) als sein Stellvertreter. Knapp ein Jahr später, am 5. Dezember 1922, fand eine entscheidende Generalversammlung statt, auf der die Umbenennung in Bund für Menschenrecht erstmals besprochen wurde. Ein neuer Vorstand wurde gewählt, der bereits viele neue Gesichter zählte, die später den Bund für Menschenrecht dauerhaft prägen sollten. Als erster Vorsitzender wurde Carl Terlicher bestätigt und Leopold Strehlow (wohnhaft: Urbanstraße 124 bei den Eltern, sein Vater Friedrich Strehlow war Gärtner) als zweiter Vorsitzender neu gewählt. Schriftführer wurden Paul Weber, Sekretär aus Lichterfelde, und erstmals eine Frau: Else Kohl.5 Kassierer wurde Wilhelm Drews aus der Oranienstraße 123. Ab diesem Zeitpunkt war immer auch eine Frau in irgendeiner Funktion im Vorstand tätig. Sowohl der Berliner Freundschaftsbund e.V. als auch später der Bund für Menschenrecht können als lesbisch-schwule Vereinigungen angesehen werden, wenn auch vermutlich nicht paritätisch, so waren die Frauen doch deutlich vertreten. Gleich nach der Gründung 1919 wurde eine Damenabteilung, geleitet von Frau Schüssler und Frau Mertens, ins Leben gerufen, die bis 1933 Bestand hatte. Das Vereinslokal des Berliner Freundschaftsbundes war der Vereinssaal in der Alten Jakobstraße 89, wo man sich jeden Dienstag traf6 zeitweise auch Kleischmanns Festsäle in der Lindenstraße 110.7 Auf jener Generalversammlung am 5. Dezember 1922 stellt das Mitglied Friedrich Radszuweit den Antrag, den Vereinsnamen in "Bund für Menschenrecht" umzubenennen. Dieser Antrag wurde angenommen. Eventuell war der Name "Freundschaftsverband" doch zu offen schwul (oder lesbisch) und "Menschenrechte" war allgemein verbindlicher. Die Umbenennung wurde eingeleitet und am 11. Mai 1923 fand erneut eine Vorstandswahl statt. Der neue Name wurde angenommen. Terlicher trat als Vorstand zurück, um Friedrich Radszuweit als erstem Vorsitzenden Platz zu machen. Die Wahl Radszuweits war zwar keine "feindliche Übernahme", aber der Sieg einer Fraktion von vielen innerhalb des Vereins, die sich heftig bekämpften. Zum einen gab es die Gruppe um Albert Eggert, v. Saleski und Swoboda-Reif, zum anderen die DFV-Leute um Max Danielsen, der die Redaktion der Freundschaft leitete, und Männer wie Hans Kahnert-Janus, der rein politisch arbeiten wollte, ohne die Vergnügungskultur mit zu organisieren. Kahnert-Janus ging und giftete über seine Zeitschrift Hellasbote gegen Radszuweit. Danielsen ging auch, bzw. musste abtreten,8 näherte sich 1924 wieder an, um sich dann endgültig abzuwenden. Er sollte ein paar Jahre später den DFV wieder neu beleben. Friedrich Radszuweit dagegen konsolidierte seinen Verband, den er als Kaufmann auch zu seinem Unternehmen machte. Die akademischen Kollegen vom WhK runzelten die Stirn. Kurt Hiller berichtete unter Berufung auf Fritz Flato, der Anwalt des WhK, vom Kongress des Deutschen Freundschaftsverbandes 1922 in München: "Es sei ein riesiges Rendezvous gewesen, mit natürlich richtiger Kerntendenz, aber einem Übermaß von Dilettantismus, volkstümlicher Ahnungsarmut, Matschreden, Quatschreden, Gutgemeintem doch Schlechtgekonntem – wie es eben einer Bewegung entsprach, die sich auf Massen stützen wollte statt auf Biologen, Ethnologen, Psychologen, Juristen, Philosophen, Litteraturkundige, Litteraten. Oft sei es wirklich Askese gewesen, zuzuhören."9 Radszuweits Schachzug hatte allerdings wenig Dilettantisches an sich. Offiziell hatte sich nur die Regionalgruppe "Berliner Freundschaftsbund e.V." in "Bund für Menschenrecht" umbenannt. Da aber der Deutsche Freundschaftsverband (DFV) und der Berliner Freundschaftsbund weitgehend identisch waren, bekam Radszuweit gleichzeitig die Bundesorganisation mit dazu. Er baute eine mitgliederstarke Organisation auf, die mehr als 10.000 Personen – Frauen wie Männer – mit einem fast flächendeckenden Netz von Einzelgruppen im gesamten Reichsgebiet umfasste. Über die genaue Mitgliederstärke wird bis heute gerätselt. In einem Brief vom August 1926 schrieb Radszuweit an das Justizministerium: "Die Zahl der gleichgeschlechtlichliebenden Menschen in Deutschland beträgt zwei Millionen, die zum grössten Teil im Bund für Menschenrecht E.V., Sitz Berlin, organisiert sind."10 Diese Angabe ist extrem übertrieben. Radszuweits Übertreibungen fanden 1929 sogar Eingang in ein Urteil des Berliner Landgerichtes, das feststellte, dass der Bund für Menschenrecht 100 000 Mitglieder zählte.11 Zum zehnjährigen Bestehen des Bundes gab aber selbst Radszuweit 'nur' 48.000 Mitglieder an.12 Aber auch diese und ähnlich hohe Angaben wurden bereits damals kritisiert. Max Danielsen berichtete, als es zur Übernahme und Umbenennung in den Bund für Menschenrecht kam, habe der DFV 13.000 Leser der "Freundschaft" und 1.500 Mitglieder deutschlandweit gehabt. Schon ein Jahr später soll Radszuweit diese auf 12.013 Mitglieder erhöht haben, was Danielsen zu dem Ausspruch verleitete: "Ich sage: Herr Radszuweit, Sie lügen!" Danielsen behauptete, der Bund habe 1926 in Wirklichkeit nur 380 Mitglieder gehabt.13 Es ist heute zu vermuten, dass in die Zahl 48 000 Mitglieder neben zahlenden Mitgliedern auch alle Abonnentinnen und Abonnenten der vier verschiedenen Zeitschriften aus dem Radszuweit-Verlag eingerechnet wurden. In seinem Verlag stellte Radszuweit Zeitschriften mit einem hohen Verbreitungsgrad und Bücher unterschiedlichster Couleur her. Während WhK und GdE immer nur kleine Vereinigungen blieben, kann der Bund für Menschenrecht (BfM) trotz der Zahlenspielchen als die erste homosexuelle Massenorganisation bezeichnet werden. Vereinssitze des BfM waren zunächst Schliemannstraße 15 in Prenzlauer Berg, dann die Kaiser-Friedrichstraße in Pankow und ab 1926 bis 1933 die Neue Jakobstraße 9 in Mitte. Hier wurde auch ein Buchladen betrieben. Die Idee des verbandseigenen Buchladens war jedoch nicht neu. Kurze Zeit betrieb der BfM in Kreuzberg in der Prinzenstraße 14 einen Buchladen. Die Eröffnung war am 1. August 1923. Das Haus und der Laden gehörten vorher der Familie Behrendt, die hier eine Papierwarenfabrik und Buchdruckerei mit Dampfbetrieb sowie eine Buchbinderei betrieben. Die letzte Inhaberin war Marie Behrendt, die den Laden an den BfM abgegeben hatte. Sehr lange hat er ihn jedoch nicht halten können. Die Gründe für die schnelle Aufgabe sind nicht bekannt und nie publiziert worden. Vom 19. bis 20. April 1924 fand die Generalversammlung in Frankfurt am Main statt. In den Vorstand wurden allerdings nur Berlinerinnen und Berliner gewählt. Friedrich Radszuweit wurde als erster Vorsitzender bestätigt, der Kreuzberger Wilhelm Drews stieg zum zweiten Vorsitzenden auf. Schriftführer wurden Paul Weber und die Buchhalterin Aenne Weber aus Charlottenburg. Aenne Weber hielt am 10. November 1924 einen Vortrag zum Thema: "Die homosexuelle Frau und die Reichstagswahl" im Luisenstadt-Kasino in der Alten Jakobstraße 64.14 Aenne Weber war 1924 auch Leiterin der Damenabteilung des BfM. Außerdem wurden auf der Versammlung als Kassierer der Buchhalter Fritz Schüler und der Gesangslehrer Frank Noak Nordensen aus Mitte gewählt und Hans Schmainta kehrte als Kassenrevisor zurück, unterstützt von Alfred Leubner.15 Die nächste Generalversammlung fand vom 17. bis 18. April 1927 im Alexander-Palais in der Landsberger Straße 39 (Mitte) statt. Radszuweit und Drews wurden als Vorsitzende bestätigt, ebenso Paul Weber. Als neue Schriftführerin kam die Stenotypistin Erna Hiller aus der Solmsstraße 12 (Kreuzberg) dazu. Als neuer Kassierer kam Carl Terlicher in den Vorstand zurück, außerdem Willi Teske.16 Kassenprüfer/in wurden Hugo Blieffert und Olga Stahl. Die nächste Vorstandswahl fand am 22. September 1929 im Restaurant Franke in der Neuen Grünstraße 15 (Mitte) statt. Radszuweit, Drews, Weber, Teske und Leubner blieben. Erstmals kommt als Schriftführer der Adoptivsohn von Radszuweit, Martin Friedrich Butzko-Radszuweit, in den Vorstand. Neue Gesichter waren außerdem Willy Pahlow, Otto Streu und Frau Steven. Am 14. April 1932 starb Friedrich Radszuweit 56-jährig einen Tag vor seinem Geburtstag. Radszuweit war vor dem Ersten Weltkrieg Kaufmann in der Textilbranche gewesen und soll es zu beträchtlichem Reichtum gebracht haben. "Aus reinem Idealismus und aus Interesse an der Sache etwas zu erreichen schloß er sich damals der Berliner Organisation an", schreibt Paul Weber in seinem Nachruf.17 Radszuweit bekannte sich offen zur SPD: "Ich bekenne ganz ehrlich, daß ich früher jahrelang der S.P.D. als eingeschriebenes Mitglied angehörte, daß ich aber seit den letzten zehn Jahren, in denen ich als 1. Vorsitzender des Bundes für Menschenrecht E.V. tätig bin, mich jeder politischen Tätigkeit enthalten habe und daß ich auch keiner politischen Partei als eingeschriebenes Mitglied angehöre, da der Bund für Menschenrecht, E. V. eine unpolitische Organisation ist und ich schon aus diesem Grunde gerechterweise keine einseitige Parteipolitik treibe, um allen Mitgliedern des Bundes, ganz gleich welcher politischen Partei sie angehören, gerecht werden zu können."18 Radszuweit war verheiratet, seine Ehefrau Johanna starb 67-jährig am 1. März 1929. Am 28. März wurde die Adoptionsurkunde für Martin Butzko-Radszuweit (geb. 16.11.1903) unterzeichnet, von dem man jedoch realistisch annehmen kann, dass er Radszuweits Lebensgefährte war.19 Paul Weber trat am 17. September 1932 Radszuweits Nachfolge an. Auf der Versammlung in der Zauberflöte in der Kommandantenstraße 72 wurden Drews und Martin Butzko-Radszuweit bestätigt. Neu kamen in den Vorstand Willi Zink als Schriftführer, Willi Neuhauser als Kassierer, Felix Malkiewicz20 und Willi Hillner als Beisitzer. Dies war der letzte Vorstand des BfM. Die Nazis hatten den Verein offiziell nicht verboten, eine Zukunft hatte er jedoch auch nicht. Paul Weber beantragte am 9. November 1934 die Löschung des Vereins und gab als Grund an, dass es nur noch drei eingeschriebene Mitglieder gebe. Am 6. Januar 1936 wurde der Bund für Menschenrecht offiziell im Vereinsregister gelöscht.21 © Jens Dobler (Berlin 2003) Korrigierter und leicht gekürzter (Kapitelbezüge innerhalb des Buches) Republish ohne Abbildungen aus: Jens Dobler: Von anderen Ufern – Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain. Berlin: Gmünder Verlag 2003, S. 71-76.Text zum Download1 Eine Gesamtdarstellung des BfM findet sich in: Eldorado – Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950 (Ausstellungskatalog Berlin 1984), darin: Manfred Baumgard: "Das Institut für Sexualwissenschaft und die Homosexuellenbewegung in der Weimarer Republik", S. 31-41.2 Die Freundschaft 3. Jg., 1921, Nr. 25.3 Die Freundschaft 3. Jg., 1921, Nr. 25.4 Öffentlicher Anzeiger 9.10.1920.5 Else Kohl ließ sich im Berliner Adressbuch nicht ermitteln, wohl aber eine Näherin Emilie Kohl, die in der Urbanstraße 124 wohnte, dieselbe Adresse von Leopold Strehlow. Vermutlich war Else die Tochter von Emilie.6 Die Freundschaft 3. Jg., 1921, Nr. 7.7 Die Freundschaft 2. Jg., 1920, Nr. 24.8 Blätter für Menschenrecht 2. Jg., 1924, Nr. 1.9 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit, Erinnerungen, Zweiter Band: Eros (Reinbek 1973), S. 87.10 GStA Rep. 84a, Nr. 8100.11 Landesarchiv Berlin (LAB) A Rep. 358-01, Acc. 399, Nr. 2103.12 Blätter für Menschenrecht 7. Jg., 1929, Nr. 10.13 Neue Freundschaft 1. Jg., 1928, Nr. 13.14 Die Freundin 1. Jg., 1924, Nr. 7.15 Gegen den Uhrmacher Alfred Leubner wurde 1936 ein Ermittlungsverfahren nach § 175 geführt. Er wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Es könnte sich um dieselbe Person handeln. LAB Staatsanwaltschaftsregister. Ich danke Andreas Pretzel für diesen Hinweis.16 Gegen einen Willi Teske aus der Chausseestraße 306 in Mariendorf wurde 1940 ein umfangreiches Verfahren nach § 175 geführt. Er wurde zu einem Jahr und neun Monaten Zuchthaus verurteilt, die er in verschiedenen Moorlagern verbüßen musste. Dieser Teske war Kameramann bei Paramount und Fox-Film AG und hatte eigene Kurzfilme gedreht. Ob es sich um das ehemalige Vorstandsmitglied des BfM handelt, geht aus der Akte nicht hervor.17 Die Freundin 8. Jg., 1932, Nr. 15.18 Die Freundin 8. Jg., 1932, Nr. 13.19 LAB A Rep. 41, Acc. 4360, Nr. 44939. Ich danke Ralf Dose für diese Informationen.20 Es könnte sich um den Sohn des Schuhmachers Andreas Malkiewicz aus der Urbanstraße 132 handeln.21 LAB Rep. 042, Acc. 1743, Nr. 8990.Zitationsvorschlag:
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Wissenschaftlich-humanitäres KomiteeDas Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) bestand in der Weimarer Republik weiter und erlebte sowohl Erfolge wie Niederlagen. 1919 hatte Magnus Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaft in Tiergarten gegründet und auch das WhK hatte dort seine Niederlassung. Das Institut erlangte schnell Weltruhm und bleibt bis heute ein einzigartiges Projekt von Forschung und Lehre, Patientenversorgung und -beratung, Emanzipationsarbeit und Sexualaufklärung gleichermaßen. Im Dezember 1929 stand Hirschfeld kurz vor der Erfüllung seines jahrzehntelangen Kampfes. Der Strafrechtsausschuss im Reichstag beschloss eine Änderung des Paragraf 175. Freiwillige homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen sollten künftig nicht mehr strafbar sein. Die beschlossene Reform musste jedoch noch im Reichstag abgenickt werden, wozu es aufgrund der politischen Krisen, die ab 1930 einsetzten, schließlich nicht mehr kam. Aus der Sicht der Behörden, der Bevölkerung und der Homosexuellen war es jedoch ab 1929 nur noch eine Frage der Zeit, bis der Paragraf im Strafgesetzbuch geändert werden würde. An Hitler oder gar eine mögliche Verschärfung des Strafrechts dachte 1930/31 noch niemand, obwohl die Nazis damals schon in ihren öffentlichen Verlautbarungen keinen Zweifel an ihrer diesbezüglichen Politik aufkommen ließen. Nach der Machtübernahme Hitlers hatte auch das WhK alle Mitgliederunterlagen schleunigst vernichtet, so dass heute über seine Mitgliederstruktur und interne Organisation wenig bekannt ist. Umso wertvoller ist ein Originaldokument, das sich heute im Besitz der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft befindet. Es handelt sich um die bislang einzige erhaltene Mitgliedsbestätigung des WhK, die am 12. November 1924 für Erich Reckling aus der Graefestraße 68 ausgestellt wurde. Reckling ist ab 1920 in der Graefestraße nachweisbar. Er war Arbeiter, scheint seinen Beruf aber häufig gewechselt zu haben. 1920 ist er im Berliner Adressbuch als Schlosser eingetragen, 1923 als Wächter und 1931 als Bäcker. 1932 scheint er in die Werrastraße 36 (Neukölln) umgezogen zu sein. Reckling betrieb nebenher eine Leihbibliothek und einen Buchversand. Er verkaufte auch Hirschfelds fünfbändiges Werk "Geschlechtskunde". Eines dieser heute noch erhaltenen Exemplare von Reckling trägt den Stempel: "Versandbuchhandlung für Medizin". Über das weitere Schicksal von Erich Reckling ist nichts bekannt. Obwohl Magnus Hirschfeld auch in den zwanziger Jahren unumstrittener Führer des WhK war, fand ein Generationenwechsel statt, der 1929 zum 'Königssturz' führte. Kurt Hiller, der bereits in der Kaiserzeit zum WhK gestoßen war, übernahm vermehrt die Geschäfte. Die neuen Köpfe waren Richard Linsert und der Rechtsanwalt Dr. Fritz Flato. Linsert war 1922 auf einem Kongress der Freundschaftsverbände in München von Flato "entdeckt" worden. Hiller berichtet, dass Linsert der einzige war, der dort irgendwie vernünftig klang. Flato habe ihn angesprochen und nach Berlin eingeladen.1 Linsert wurde Sekretär des WhK. Als KPD-Mitglied gehörte er zum linken Flügel. Laut Hirschfeld war er ein Querulant, der ihn schließlich ablöste. Linsert hatte immer in Charlottenburg gelebt. Fritz Flato und seine Familie waren eingefleischte Kreuzberger. Arnold Bauer, unser Zeitzeuge, hatte Fritz Flato noch persönlich gekannt und ihn über den Schriftsteller Peter Martin Lampel in einem Lokal kennengelernt. Er war auch zu Gast in dessen Haus in der Kommandantenstraße 63/64. Bauer sagte, Flato sei ein kommunikativer, sehr hilfsbereiter Mensch gewesen.2Arnold Bauer stieß damals Ende der zwanziger Jahre in diesen Kreis, zu dem auch Kurt Hiller gehörte. Hiller und Flato waren von klein auf gute Freunde gewesen, da Flatos Mutter Ida (geb. Salomon) eine Freundin von Kurt Hillers Mutter war.3 Bauer ergänzte, dass Mutter Ida ihren Sohn überlebte, weit über 90 Jahre alt wurde und noch in den 50er Jahren Kontakt zu Kurt Hiller hielt. Das Grundstück in der Kommandantenstraße 63/64 wurde 1843 erstmals bebaut, das alte Gebäude jedoch ab 1860 durch einen Neubau ersetzt. Spätestens ab 1884 ist Fritz Flatos Großvater Michael als Besitzer des Hauses nachweisbar. Er betrieb eine Fabrik im Hinterhof, an die sich auch Arnold Bauer noch erinnern konnte.4 Wahrscheinlich infolge des Todes von Michael wurde seine Frau Clara (geb. Levin) um 1891 Inhaberin des Hauses und der Fabrik. Sie übergab den Komplex 1900 an ihren Sohn, den Kaufmann Max Flato, der Ehemann von Ida (geb. am 23. Juli 1862) und Vater von Fritz. Die Fabrik hieß "Levins Witwe und Sohn". Was dort jedoch produziert wurde, konnte ich nicht ermitteln.5 Es ist möglich, dass Max Flato im Ersten Weltkrieg starb, denn ab 1918 war seine Frau Ida als Witwe Inhaberin des Hauses und der Fabrik und blieb es auch bis zur Enteignung 1938. Fritz Flato war zunächst Gerichtsassessor und ließ sich ab circa 1925 als Rechtsanwalt in der Kommandantenstraße nieder. Seine Promotion erfolgte 1923 mit einem zivilprozessualen Thema.6 Als Rechtsanwalt führte er auch die Geschäfte seiner Mutter. Das Haus muss sich Ende der zwanziger Jahre in einem baufälligen Zustand befunden haben, so dass die Baupolizei dringende Reparaturen an der Fassade anmahnte. Flato bat wiederholt um Aufschub, da die Wohnungen teilweise leerstünden und die Mieteinnahmen nicht einmal die Unkosten decken würden. Dieser Zustand muss angehalten haben. Wegen der Enteignung jüdischen Eigentums kam das Haus 1938 in Zwangsverwaltung. Die Baupolizei mahnte wieder dringende Fassadenarbeiten an, und der Zwangsverwalter A. Dreier antwortete: "Wie dort bekannt sein dürfte, arbeiten die Häuser der nicht arischen Besitzer seit dem 1. April mit Unterbilanz, da die Lasten höher sind als die Einnahmen." 1939 wurde das Haus an den Hamburger Erich Naehring für 105.000 RM unter Preis verkauft.7 Auch das Guthaben von Ida Flato, das von den Nazis auf 15.000 RM geschätzt wurde, war beschlagnahmt worden.8 Fritz Flato war vermutlich schon seit Anfang der zwanziger Jahre im WhK Mitglied, aber erst seit November 1929 sind seine Aktivitäten nachweisbar. Zunächst war er Kassierer.9 Ab März 1930 wurde er erster Beisitzer der Geschäftsführung und Vorstandsmitglied und war zuständig für Rechtsangelegenheiten. Er bot in der Kommandantenstraße mittwochs von 18 bis 19 Uhr eine juristische Sprechstunde für Mitglieder des WhK an.10 Diese Funktion hatte er wohl bis 1933 inne. Als Rechtsanwalt übernahm Flato sowohl Strafrechts- als auch Verwaltungssachen. 1927 war er für den Radszuweit-Verlag in einer Beschlagnahmesache vor der Prüfstelle für Schund- und Schmutzschriften tätig.11 In einem Vorgang aus dem Jahre 1932 vertrat er eine Schanklizenzsache. Der Gastwirt Willy Walther versuchte eine Schanklizenz für ein Lokal in der Alten Jakobstraße 45 zu bekommen, die ihm vom Schankausschuss der Gewerbepolizei nicht gegeben wurde. Als Begründung wurde angeführt, dass es schon acht Schankstätten in unmittelbarer Nähe gebe. Über seinen Rechtsanwalt Fritz Flato legte er dagegen Beschwerde ein. Als Argument führte er an, dass es nur sechs Schankstätten wären, außerdem wäre die Miete von 450 M auf 230 M herabgesetzt worden, so dass eine Rentabilität gegeben wäre. Die Beschwerde wurde trotzdem abgewiesen.12 Ob es sich dabei um den Versuch handelte, ein weiteres "schwules" Lokal aufzumachen, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden. Flato hat nachweislich auch wegen des Paragrafen 175 Angeklagte verteidigt. Bekannt ist der Fall des Fotografen Hans-Joachim von der Hardt, der praktisch von 1933 bis 1945 unter Dauerverfolgung stand, sich aber 1933 zeitweise ins Ausland absetzen konnte. Flato war 1933 sein Anwalt.13 Flato wurde auch für seinen eigenen Freund Kurt Hiller tätig, als dieser 1933 für mehrere Monate ins KZ Oranienburg kam. Flato versuchte, sich dort für ihn einzusetzen, und rettete ihm so vielleicht das Leben.14 Flato wurde seine Zulassung 1934 von den Nazis entzogen.15 Aus einem Brief des Zwangsverwalters des Flatoschen Besitzes vom 20. Juli 1939 ist ersichtlich, dass Mutter Ida und Sohn Fritz ausgewandert sind.16 Sie waren im Februar oder März 1937 nach New York (Adresse: 160. West, 77. Str.) übergesiedelt.17 Kurt Hiller schrieb: "Er endete, etwa ein Jahrzehnt später, zu New York in bitterstem Elend durch Freitod."18 Im Jahre 1940 wurde der Stricher Oskar St. aus Charlottenburg von der Gestapo verhaftet. Er wurde wegen insgesamt 51 Fällen des Verstoßes gegen den Paragrafen 175 angeklagt. St. sagte auch über einen jüdischen Anwalt "Flatow" aus, den er. als Portier eines Nachtlokals 1932 kennengelernt hatte. Bis 1935 sollen sie sich mehrere Male zu sexuellen Spielchen getroffen haben, wofür "Flatow" bezahlt habe. Aus der Akte wird deutlich, dass die Beamten der geheimen Staatspolizei (Gestapo) offensichtlich keinen Zusammenhang zu dem Schwulenaktivisten Fritz Flato herstellen konnten. Die Polizeibeamten, die dieses Wissen aus der Weimarer Zeit noch hätten haben können, waren bis 1940 fast ohne Ausnahme ausgetauscht worden.19 Fritz Flato gehörte neben Richard Linsert und Kurt Hiller zur neuen Führungsriege des WhK. Im Jahre 1929 eskalierten die Reibereien mit Hirschfeld derart, dass das WhK im November aus dem Institut für Sexualwissenschaft auszog und für knapp ein Jahr in die Zimmerstraße 3-4 nach Kreuzberg umsiedelte.20 Diese Adresse firmierte auch als "Archiv für Sexualwissenschaft", wobei es sich vermutlich um das Archiv des WhK handelte oder um den Versuch, ein neues Archiv neben dem im Institut für Sexualwissenschaft verbliebenen zu etablieren. Im Sommer 1930 musste diese Geschäftsstelle aufgegeben werden, und man zog nach Charlottenburg, Grolmannstraße, in die Privatwohnung von Richard Linsert.21 Hirschfeld selbst focht das alles nicht mehr so stark an. Er befand sich auf Weltreise und kehrte nicht mehr nach Nazi-Deutschland zurück. Er starb 1935 im Exil in Frankreich. Richard Linsert starb am 3. Februar 1933 an den Folgen einer Grippe. Fritz Flato hielt die Trauerrede. Hiller war im KZ. Im Mai wurde das Institut für Sexualwissenschaft komplett geplündert und Teile der Bibliothek im Rahmen der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. Das WhK löste sich im Juni 1933 selbst auf. Vermutlich hatte Fritz Flato diesen letzten Verwaltungsgang erledigt. Akten gibt es darüber nicht mehr.
© Jens Dobler (Berlin 2003)
Korrigierter und leicht gekürzter (Kapitelbezüge innerhalb des Buches) Republish ohne Abbildungen aus: Jens Dobler: Von anderen Ufern – Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain. Berlin: Gmünder Verlag 2003, S. 101-103.Text zum Download1 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (Eros), (Rowohlt, Reinbek 1973), S. 87.2 Gespräch mit Arnold Bauer am 27. Oktober 2001.3 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (Logos), (Rowohlt, Reinbek 1969), S. 233.4 Landesarchiv Berlin (LAB) B Rep. 206, Acc. 2714, Nr. 3291.5 LAB B Rep. 206, Acc. 2714, Nr. 3292.6 Der Einfluß von Veränderungen in der Rechtssphäre des Vollmachtgebers auf die bürgerliche und zivilprozessuale Vollmacht. Dissertation an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, 1923.7 LAB B Rep. 206, Acc. 2714, Nr. 3293.8 Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Rep. 36A, OFP 9339.9 Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Nr. 25, November 1929.10 Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Nr. 27, Februar/März 1930.11 LAB Pr. Br. Rep. 030, Nr. 17 063.12 LAB A. Pr. Br. Rep. 031-01, Nr. 4314.13 LAB Rep. 358-02, Nr. 103 709/10.14 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (Logos), S. 285.15 Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, Berlin 1998, S. 124.16 LAB B Rep. 206, Acc. 2714, Nr. 3293.17 BLHA Rep. 36 A, OFP 9339.18 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (Logos), S. 285.19 LAB A Rep. 358-02, Nr. 63 489.20 Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Nr. 25, November 1929.21 Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Nr. 28, April/August 1930.Zitationsvorschlag: |