Rede von Claudia Schoppmann


Claudia Schoppmann während ihrer Rede am 16. Oktober 2013 in Berlin-Schöneberg


Dokumentation der Rede von Claudia Schoppmann für die Gedenkstätte Stille Helden, die sie während der Gedenksteineinweihung für Gertrude Sandmann und Tamara Streck am 16. Oktober 2013 in Berlin-Schöneberg gehalten hat:


Finden sie mich oder finden sie mich nicht


Als Mitarbeiterin der Gedenkstätte Stille Helden möchte auch ich Sie und Euch ganz herzlich begrüßen. Die Gedenkstätte Stille Helden befindet sich seit 2008 am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte, dort wo auch das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt und das Anne Frank Zentrum sind. Die Gedenkstätte erinnert an Menschen, die während der NS-Zeit verfolgten Jüdinnen und Juden halfen - sie bei sich versteckten oder Unterschlupf organisierten, ihnen Lebensmittel gaben oder falsche Papiere besorgten - trotz des Risikos für die eigene Person oder ihre Familie. Denn wer Juden half und dabei erwischt wurde, musste ab 1941 damit rechnen, ins Konzentrationslager zu kommen.

Ebenso ist die Gedenkstätte jenen Männern, Frauen und Kindern gewidmet, die von den Nationalsozialisten seit 1933 als Juden ausgegrenzt, entrechtet und schließlich in allen Lebensbereichen immer stärker verfolgt wurden. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie sich selbst als jüdisch verstanden oder ob sie etwa getauft waren. Nach den sogenannten "Nürnberger Rassengesetzen" galten sie bekanntlich als Jüdin oder Jude, wenn sie drei oder vier jüdische Großeltern hatten.

"Ich habe mich bisher kaum als Jude, nur als Europäer gefühlt", notierte Gertrude Sandmann 1920 in ihr Tagebuch, und fährt fort: "Aber der Antisemitismus treibt mich dazu, ‚rassebewußt' zu werden." Dennoch trat sie 1926 aus der Jüdischen Gemeinde aus.

Von den 73.000 Jüdinnen und Juden, die 1941 noch in Berlin lebten, sind etwa 7.000 untergetaucht, um der Deportation zu entkommen. Nachdem Gertrude Sandmann am 21. November 1942 den Deportationsbefehl erhalten hatte, täuschte sie einen Selbstmord vor, das heißt, sie hinterließ einen Abschiedsbrief in ihrer Wohnung. Sie mag geahnt haben, was die Verschleppungen bedeuteten, waren doch ihr Onkel und ihre Tante, Arthur und Elise Wolffgang, zwei Monate zuvor, am 1. September 1942, deportiert worden. Und nie wieder hatte sie von ihnen gehört.

Nun bekam Gertrude Sandmann natürlich keine Lebensmittelmarken mehr, und so war sie - wie alle "Untergetauchten" - auf die Hilfe nichtjüdischer Deutscher angewiesen. Vor allem ihre damalige Lebensgefährtin Hedwig Koslowski, genannt Jonny, spielte in den folgenden Monaten und Jahren eine wichtige Rolle. Sie organisierte Verstecke und Lebensmittel und beherbergte ihre Freundin in den letzten Kriegsmonaten in der eigenen Wohnung in der Eisenacher Str. 103, die sie mit einer anderen Frau teilte.

Zuerst kam Gertrude Sandmann bei einem kommunistischen Ehepaar in Treptow unter, Reinhold und Charlotte Großmann, die sie vor 1933 bei einer Urlaubsreise an die Ostsee kennen gelernt hatte. Großmanns elfjährige Tochter Sonja musste von einem Tag auf den andern ihr kleines Zimmer räumen, in dem Gertrude Sandmann nun untergebracht wurde, und sie musste Ausreden finden, wenn eine Schulfreundin sie besuchen wollte.

Sonja Hain, die Tochter der Großmanns, hat mich gebeten, ihre Grüße auszurichten. Sie ist leider nicht mehr mobil genug, um heute dabei zu sein.

Bei den Luftangriffen, die immer häufiger wurden, durfte Gertrude Sandmann wegen der misstrauischen Nachbarn nicht mit in den Keller. So saß sie zitternd in der Wohnung und hoffte, dass die Bomben das Haus nicht treffen würden. Gleichzeitig musste sie aufpassen, um nicht vom Luftschutzwart bei seinem Kontrollgang durch die Wohnungen entdeckt zu werden. "Finden sie mich oder finden sie mich nicht", lautete ihre bange Frage bis Kriegsende immer wieder.

Viele der untergetauchten Jüdinnen und Juden - schätzungsweise zwei Drittel - haben die Zeit im "Untergrund" nicht überlebt, weil sie verraten wurden, bei Razzien der Gestapo in die Hände fielen oder Opfer von Bombenangriffen wurden.

Gertrude Sandmann gehört zu den etwa 1700 jüdischen Menschen, die im Mai 1945 das Kriegsende tatsächlich erlebten - nach zweieinhalb Jahren einer illegalen, menschenunwürdigen Existenz, abgemagert und mit erheblichen gesundheitlichen Schäden. Das verdankte sie ihrem zähen Überlebenswillen - und denen, die entgegen der Nazi-Ideologie nicht aufgehört hatten, in ihr einen Menschen zu sehen, dem sie in größter Not Hilfe und Beistand nicht versagten.

Wer mehr über Gertrude Sandmann und ihre Helferinnen und Helfer wissen möchte, ist herzlich zu einem Besuch der Gedenkstätte Stille Helden in der Rosenthaler Str. 39 eingeladen.

Claudia Schoppmann (Berlin 2013)