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Eine zwiespältige Ahnin
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Vor rund 100 Jahren, am 9. Oktober 1904, hielt Anna Rüling die weltweit bislang erste bekannte lesbenpolitische Rede über "Homosexualität und Frauenbewegung". Schauplatz war die Jahreshauptversammlung des Wissenschaftlich humanitären Komitees im Berliner Hotel Prinz Albrecht. |
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Die Idee einer sozialen Bewegung - nicht nur - für das Recht auf Selbstbestimmung von Homosexuellen entstand im 19. Jahrhundert und wird speziell mit Deutschland verknüpft. Für die Schwulenbewegung gilt Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) als Ideenstifter. Der Jurist bekannte sich offen zu seiner Homosexualität: Er nannte sich selbst einen Urning, seine homosexuellen Schwestern Urninden, und hatte erfolglos versucht, einen Urningsbund als erste Homosexuellenorganisation ins Leben zu rufen. In 12 Broschüren zu „Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“ (1864-1879) entwickelte er die erste in sich geschlossene Theorie angeborener (männlicher) Homosexualität, die er abgeleitet von der Venus Urania als Uranismus bezeichnete. Anfänglich veröffentlichte er die Texte zum Schutz seiner Familie unter dem Pseudonym Numa Numantis. In den USA wurde Karl Heinrich Ulrichs im Jahr 2000 auf Initiative des Historikers Michael Lombardi-Nash (Florida) gefeiert; Ende August 2006 soll anlässlich des 181. Geburtstags von Ulrichs an seinem Grab im italienischen L‘ Aquila eine Gedenkfeier stattfinden. Mit dem Namen Anna Rüling wird eine der lesbischen Vorkämpferinnen verbunden. Zeitgenössisch betrachtet ist Anna Rülings Rede mehr als ungewöhnlich und bedeutungsvoll: Zeitzeugnisse lesbischer Frauen um die Wende des 19./20. Jahrhunderts sind generell äußerst rar. Die wenigen, die überliefert sind, entstammen sexualwissenschaftlichen Kontexten, in denen Frauenliebe überwiegend pathologisiert wurde. Was damals zum Skandalthema taugte, wird heute mit dem Mantel von Toleranz und Liberalismus bedeckt, unter dem Klischees allerdings ebenso weiterleben, wie die Hoffnung, ‘es‘ möge die eigene Tochter nicht treffen und ‘die‘ mögen bitte keine Kinder erziehen. Auch biologische Erklärungsmuster feiern dabei wieder fröhliche Urständ. Die Sexualwissenschaft hatte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin auf der Basis verschiedener Naturwissenschaften entwickelt, vor allem im Kontext von Medizin und Psychiatrie. Das sexualwissenschaftliche Wissen wurde handlungsanleitend für die staatlichen, vor allem die juristischen Diskussionen über Homosexualität. Lesbische Frauen wurden nicht durch den Gesetzgeber kriminalisiert. Allerdings wurde seit der Jahrhundertwende immer wieder – insbesondere mit dem Argument der Verführungsmöglichkeit heterosexueller Frauen – die Ausweitung des Paragrafen 175, der männliche Homosexualität kriminalisierte, auf Frauen diskutiert. Anna Rülings Rede wurde unter der Überschrift „Welches Interesse hat die Frauenbewegung an der Lösung des homosexuellen Problems?“ in einer Ausgabe des bekannten Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen publiziert. Dessen Herausgeber im Namen des Whk war der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld (1868-1935). Die Textfassung der Rüling-Rede im Jahrbuch wurde im übrigen von Simone de Beauvoir (1908-1986) in ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ (1949) rezipiert; sie bezog daraus die Schätzung, 20 Prozent aller Prostituierten seien homosexuell. Im Whk selbst scheint die Rüling-Rede Anstoß, Anlass oder auch einfach nur neue Nahrung für einen Richtungsstreit gewesen zu sein. Dabei ging es anscheinend weniger um die Inhalte der Rede, die vermutlich politisch die meisten Männer schlicht nicht interessierte, sondern vor allem darum, dass das Fräulein Rüling sich selbst als homosexuell bezeichnet hatte und darauf ganz offenkundig auch noch stolz war. Der politische Auftrag der Aufklärung über Homosexualität im Gegensatz zu einer „Verherrlichung“ wurde im Whk heftig diskutiert. Über die eigene ‘Betroffenheit‘ wollte kaum einer der Männer öffentlich Auskunft geben. Dies hielt man im Sinne der Objektivität von Wissenschaft für unzuträglich. Das Wissenschaftlich humanitäre Komitee (Whk) war eine wissenschaftspolitische Vereinigung, die vor allem über Sexualität aufklärte und Lobbyarbeit für die Abschaffung des auf homosexuelle Männer zielenden Strafrechtsparagraphen 175 machte. Die Organisation war 1897 von Magnus Hirschfeld, dem Leipziger Verleger Max Spohr (1850-1905) und dem Hannöverschen Eisenbahnbeamten Eduard Oberg (1858-1917) sowie dem preußischen Oberleutnant a. D. Franz-Joseph von Bülow (1861-1915) gegründet worden. Sie gilt als eine Art Auftakt für die von Männern dominierte Homosexuellenbewegung, die obwohl keineswegs von zeitgenössischem Sexismus frei, auch im sexualreformerischen Flügel der Frauenbewegung Verbündete suchte. 13 Jahre dauerte es bis 1910 endlich die erste Frau in das Amt eines sog. Obmannes des Whk berufen wurde: die Schriftstellerin Toni Schwabe (1877-1951), später u.a. auch Helene Stöcker (1869-1943) sowie die homosexuellenpolitisch engagierte und sexualwissenschaftlich publizierende Johanna Elberskirchen (1864-1943), die sich wie Anna Rüling offen als homosexuell bezeichnete. Der persönliche und politische Mut der vierundzwanzigjährigen Anna Rüling, vor einem großen, gemischt-geschlechtlichen und verschieden sexuell orientierten Publikum, über Sexualität zu sprechen, was in dieser Zeit generell und für Frauen im Speziellen tabuisiert war, sich obendrein selbst als homosexuell zu outen, darauf auch noch stolz zu sein, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein Mitleidsdiskurs hätte 1904 vielleicht noch Anerkennung gefunden, sicher aber nicht die selbstbewussten Forderungen in Rülings rhetorischem Gepäck. Über kaum eine andere, sich offen als homosexuell bezeichnende Frau um die Wende des 19./20. Jahrhunderts ist politisch und wissenschaftlich mehr geschrieben worden als über Anna Rüling. Kurios insofern, als bis vor kurzem so gut wie gar nichts über sie persönlich bekannt gewesen ist. Hinter dem anagrammatischen Pseudonym Anna Rüling, auch Th. Rüling, verbirgt sich die Journalistin Theo Anna Sprüngli. Theo Anna Sprüngli wurde am 15. August 1880 in Hamburg geboren. Ihre Mutter war Caroline Sprüngli, geb. Dangers (1855- ?) und der Vater, Adolf Sprüngli (1844- ?), ein Schweizer Überseekaufmann, der in Hamburg lebte und die helvetisch-konsularischen Interessen vertrat. Mit mindestens einer Schwester wuchs sie, so schreibt Sprüngli selbst, in einer „hanseatisch-strengen Atmosphäre des Vaterhauses“ auf. Sieben in Deutschland weit verstreute Lebens- und Wirkungsorte von Theo Anna Sprüngli sind bislang bekannt: Hamburg, Stuttgart, Berlin, Düsseldorf, Ulm, der dort in der Nähe gelegene Ort Blaubeuren und zuletzt Delmenhorst. In ihrer Geburtsstadt Hamburg besuchte sie eine höhere Töchterschule und nahm – wie es sich für eine Bürgerstochter geziemte – Klavier- und Musiktheorieunterricht. Als Siebzehnjährige begann sie außerdem für das Hamburger Fremdenblatt zu schreiben. Dies ist, wie ihr späterer Lebensweg zeigt, der Beginn ihrer journalistischen Laufbahn. In Stuttgart machte sie einen Gymnasialabschluss und ging nach einem kurzen Hamburger Aufenthalt nach Berlin. Dort arbeitete sie 1905/1906 für den Scherl-Verlag, einen der größten Zeitungskonzerne der Spreemetropole, zu dem u.a. die Zeitung Der Tag und der Berliner Tages-Anzeiger gehörten – einige Jahre später fiel der Konzern in die Hände des berüchtigten Deutschnationalen Alfred Hugenberg (1865-1952). Von Berlin zog Theo Anna Sprüngli nach Düsseldorf, wo sie 30 Jahre lang lebte und arbeitete: Von 1914 bis Mitte der Zwanziger schrieb sie für die frauenrechtlerisch äußerst gemäßigte, national-patriotische Neue Deutsche Frauen-Zeitung, die aus der Rheinisch-westfälischen Frauenzeitung hervorgegangen, später unter Männerregie unter dem Titel Der Bürger erschien und als Offizielles Kluborgan des Deutschen Frauenklubs firmierte. Die Journalistin begleitete vorwiegend das musikalische und kulturpolitische Geschehen sowie die Welt des Kinos. Aber auch Reiseberichte, Texte über den Rheinischen Frauenklub und den Freiburger Hausfrauenbund sowie vereinzelte glossenartige Artikel und (Musik-)Buchrezensionen finden sich in ihrem Artikelrepertoire. Außerdem veröffentlichte sie zwei Fachbücher über Musik: 1914 kam im Kölner Tonger-Verlag ihr „Kurzer Abriß über die Musikgeschichte“ und 1921 „Das deutsche Volkslied“ heraus. 1922 gelang Theo Anna Sprüngli schließlich der journalistische Sprung zu den Düsseldorfer Nachrichten. Später arbeitete sie auch für die Düsseldorfer Lokal-Zeitung. Des Weiteren gab sie in einem Fragebogen der Reichskulturkammer im November 1933 an, war sie freie Mitarbeiterin für verschiedene Zeitungen, z.B. die Bremer Nachrichten, die Dortmunder Zeitung, den Hamburger Anzeiger und die Leipziger Neuesten Nachrichten. An das Thema Homosexualität wagte sie sich noch einmal literarisch: 1906 erschien unter dem Pseudonym Th. Rüling im Leipziger Max Spohr-Verlag, der für sexualreformerische und homosexuellenpolitische Texte einschlägig war, ihr Novellenband „Welcher unter Euch ohne Sünde ist... Bücher von der Schattenseite“. Zwei der Geschichten handeln von Schwulen, drei von Lesben, zwei davon – zeitgenössisch ungewöhnlich – mit lesbischem happy end. Einer dieser beiden positiv gefärbten Texte nimmt das autobiographische Motiv der Musik auf: In der Novelle „Mondscheinsonate“ verlieben sich zwei bürgerliche Frauen, Hanna und Charlotte. Während die eine ihrer sehnsuchtsvollen Liebe verzweifelt am Klavier Ausdruck verleiht, gesteht auch die überraschend dazukommende Freundin, ihre Liebe: „Hanna, Liebling, nun weiß ich alles, Dein Spiel hat mir gesagt, was Deine Lippen verschwiegen; ich wagte ja nicht zu hoffen, daß Du empfändest wie ich, darum schien ich kalt, o Hanna, wie schwer ist‘s mir geworden. Dank, Dank dem Schicksal, das mich zur rechten Stunden hierher führte.“ Diese Offenbarung hält die Protagonistin Hanna vom geplanten Suizid ab. Eine Lektüre der journalistischen Texte von Theo Anna Sprüngli zeigt allerdings, dass die Pionierin nicht unkritisch zur historischen Identifikationsfigur für Lesben erhoben werden kann: Die Journalistin war glühende deutsche Patriotin, Nationalistin und Kriegsbefürworterin, mit bisweilen unerträglichem Pathos, etwa wenn sie mit entlarvender Wortwahl in kulturimperialistischem Gestus und religiös konnotiert formulierte, dass die „deutsche Kultur ...kraftvoll dasteht im Sturm kriegerischer Zeiten und ihre Segnungen bis in das eroberte feindliche Land trägt. Die deutsche Kunst beschützt vom deutschen Schwert“. Kultur stützt Politik und umgekehrt nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Theo Anna Sprüngli war nicht nur eine kulturpolitische Schreibtischtäterin: Sie führte beispielsweise Opernregie in einem Fronttheater und engagierte sich politisch in einschlägigen Organisationen: 1915 war sie 1. Schriftführerin in der Düsseldorfer Ortsgruppe des Flottenbundes deutscher Frauen. Dieser Verein wurde 1905 zur Unterstützung der Agitationsarbeit des seit 1898 bestehenden Deutschen Flottenvereins gegründet. Der Flottenbund gehörte wie z.B. die Frauengruppe des Ostmarkenvereins und die weibliche Hilfsorganisation der Deutschen Kolonialgesellschaft zu den zentralen nationalistischen, kolonialistisch durchsetzten Zusammenschlüssen von Frauen im deutschen Kaiserreich, wozu auch die ländlichen und städtischen Hausfrauenvereine zählten. Im Reichsverband Deutscher Hausfrauenvereine war die Journalistin Sprüngli in der Pressekommission aktiv. Zentrales politisches Anliegen des Verbandes war es, den „wirtschaftlichen und sittlichen Aufstieg unseres deutschen Vaterlandes“ zu befördern. Die Lebenssituation und Tätigkeiten von Theo Anna Sprüngli während des Nationalsozialismus sind bislang nur in kleinsten, verstreuten Bruchstücken zu rekonstruieren. Mitfrau in der NSDAP war sie wohl nicht; als Publizistin gehörte sie dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller an. In ihrer Akte der Reichsschrifttumskammer findet sich keinerlei Hinweis auf ihre frühere homosexuellenpolitische Rede und Publikationen – ihr diesbezügliches Schweigen scheint niemals aufgeflogen zu sein. Ende der dreißiger Jahre zog sie von Düsseldorf weg. Sie scheint seitdem nicht mehr hauptberuflich journalistisch tätig gewesen zu sein. In dieser Zeit war sie am Ulmer Stadttheater für die Schriftleitung zuständig, außerdem für Schauspielleitung und Dramaturgie. Zehn Jahre später ließ sie sich in Delmenhorst nieder, einem zwischen Bremen und Oldenburg gelegenen Ort. Dort arbeitete sie bis zu dessen Schließung am städtischen Theater als Dramaturgin, Werbe- und Abendspielleiterin. 1949 hatte sie ihr Comeback als Journalistin bei der Delmenhorster Zeitung und der Nordwestzeitung. Sie engagierte sich bis zu ihrem – wie die Kollegen schrieben – unerwarteten Tod am 8. Mai 1953 im Alter von 73 Jahren für die Presse und gehörte zu den ersten und ältesten Journalistinnen der Bundesrepublik. An der Person und dem Wirken Theo Anna Sprünglis lassen sich krasse Widersprüche und Ambivalenzen und damit politische Zwiespältigkeit aufzeigen – und zwar auch mit Blick auf sie als eine historische Identifikationsfigur für (lesbische) Frauen: ihre Zugehörigkeit zu rechten Organisationen, die keine Distanzierung oder kritische Positionierung erkennen lässt, ihr glühender Nationalismus und Patriotismus, der sich auch in eine Verherrlichung zumindest des Ersten Weltkrieges ausdrückte, machen eine umfassende Identifikation für politisch kritische (nicht nur lesbische) Frauen schwer und letztlich unmöglich. In der politischen und wissenschaftlichen feministischen Diskussion wurde in den letzten Jahren begonnen, sich kritisch mit den eigenen zwiespältigen Ahninnen zu beschäftigen. Die politisch nicht nur ambivalenten, sondern scharf zu kritisierenden Aspekte der politischen Arbeit von Theo Anna Sprüngli sind Teile eines „negativen lesbischen Eigentums“, wie dies u.a. in Anlehnung an Jean Améry genannt wird. Sprünglis zeitgenössisch durchaus radikale Ansichten zu Homosexualität und ihre emanzipativen Vorstellungen von Frau- und Mann-Sein gelten dagegen als „positives lesbisches Eigentum“. Wechselseitig eines davon zu verschweigen, würde kritischer Geschichtsschreibung, Traditionspflege und historischem Lernen – nicht nur über die Ahninnen und Ahnen von Emanzipationsbewegungen – zuwiderlaufen.
Allgemeine Literatur
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