Annette Eick (1909-2010)


ENGLAND, 13. Oktober 2009: Annette Eick wird 100 Jahre alt

Die Autorinnen des Portals "Lesbengeschichte" gratulieren Annette Eick ganz herzlich zum 100. Geburtstag am 13. Oktober 2009!
Schon in ihrer Jugend im Berlin der Zwanziger Jahre schrieb Annette Eick für Lesbenzeitschriften wie "Frauenliebe" oder "Garçonne". Wäre sie noch ein bisschen jünger, mit der neuen Technik vertraut und die Augen besser, wäre sie sicher auch Autorin von www.lesbengeschichte.de.
Was das Schreiben und Lyrik im Besonderen für sie bedeuten, zeigt der sehr sehenswerte englische Dokumentarfilm von Sue Giovanni und Jules Hussey: "Immortal Muse" (2005, 25 min)."Unsterbliche Muse" – so lautet auch der Titel des 1984 erschienenen Gedichtbandes von Annette Eick.


Die besten Glückwünsche nach England, wo Annette Eick seit ihrer Flucht aus Deutschland 1938 lebt.


Annette Eick 2007 © Jules Hussey

Annette Eick 1992 © Claudia Schoppmann


Von den Nazis ins Exil getrieben


Auf fast ein ganzes Jahrhundert zurückblicken kann Annette Eick, die im letzten Oktober ihren 95. Geburtstag beging – in einer kleinen Hafenstadt in Südengland, wo die gebürtige Berlinerin seit Jahrzehnten lebt. Einem größeren Publikum bekannt wurde sie durch den preisgekrönten Dokumentarfilm "Paragraph 175", in dem sie als einzige Frau neben schwulen Männern, die über ihr Leben im Dritten Reich berichten, zu Wort kommt.


Ich lernte Annette Eick 1992 kennen, als ich für mein Buch "Zeit der Maskierung" Gespräche mit lesbischen Frauen über ihr Leben, vor allem während der Nazizeit, führte. Ihre in Berlin lebende Nichte Kirsten hatte den Kontakt zwischen uns hergestellt. Als ich Annette Eick damals zaghaft anrief und fragte, ob sie eventuell zu einem Interview mit mir bereit sei, lud sie mich gleich gastfreundlich zu sich ein.


Als ich nach einer lange Reise mit Flugzeug und Überlandbus eines Abends im Herbst 1992 in der Grafschaft Devon eintraf, verwickelte sie mich sofort in eine spannende, gelegentlich mit englischen Wörtern durchsetzte Unterhaltung, die kaum vor Mitternacht endete. Mühelos zitierte sie Gedichte von Rilke, einem ihrer Lieblingsdichter, und erinnerte sich an längst vergangene Berliner Zeiten, so als ob es gestern gewesen sei.


Als Kind einer assimilierten jüdischen Familie – die Eltern führten ein gut gehendes Möbelgeschäft – verlebte Annette eine behütete Kindheit und Jugend im Berliner Westen. In der Schule verliebt sie sich in ihre charmante und allseits beliebte Lehrerin, Erika von Hörsten. Die bringt ihr nicht nur Sapphos Gedichte nahe, sondern gibt ihr auch – nach dem Abitur – den ersten „wirklichen Kuss“.


„Einmal habe ich Erika eine Platte geschenkt mit einem Schlager, der damals gesungen wurde, 'Dein Mund sagt nein, doch deine Augen sagen ja. Geliebte Frau, ich werd dich heut noch küssen.' Sie lachte und fragte, ob ich das auf sie gemünzt hätte? Einmal ist sie mit der Klasse einer andern Schule auf eine Skitour geschickt worden, und ich durfte mitkommen. Ich glaube, es war Sylvester, man hat getrunken, man hat getanzt, es war alles wunderschön. Ich konnte es kaum noch ertragen, ich habe zu Erika gesagt, 'Ich geh jetzt schlafen, ich bin müde.' Es war nicht wahr, aber ich bin raufgegangen ins Zimmer und habe mich hingelegt. Aber ich hatte das starke Gefühl, sie kommt auch nach, und ich ließ deshalb die Tür auf. Sie kam und wir umarmten und küssten uns fürchterlich. Am nächsten Morgen war ich sehr geschockt über mich selber, denn die Initiative war von mir ausgegangen. Da wollte ich mich entschuldigen gehen, klopfte an ihr Zimmer, kam rein, und sie fragte mich, ob ich in ihr Bett kommen wollte!“ Verdattert sagt Annette nein, und Erika von Hörsten reist Hals über Kopf nach Berlin zurück…


Damals besucht Annette Eick zum ersten Mal und mit Herzklopfen einen „Damenklub“, dessen Adresse sie in einer einschlägigen Zeitschrift gefunden hat. „Der Club war im Norden, im proletarischen Teil Berlins, in dem die jungenhafteren Mädchen in ihrem Sonntagsbest hinkamen, das heißt in einem Smokingkostüm mit einer Krawatte und dergleichen. Ich hatte bereits das Bedürfnis, mit Frauen zu sein. In diesem Club lernte ich eine Frau kennen, Ditt, die ein bisschen wie Marlene Dietrich aussah, die mir als Typ sehr gefiel, auch wenn sie etwas vulgär war. Sie hatte einen enormen sex appeal, war sehr reizvoll. Sie hat mich verführt. Sie gab mir Schwedenpunsch zu trinken, ich war betrunken und kam zu spät nach Hause. Mein Vater war noch auf, und da kriegte ich die erste Ohrfeige von ihm. Meine Eltern haben sich natürlich geängstigt, wo ich so lange blieb.“


Nach und nach entdeckt sie andere Treffpunkte der einst blühenden lesbischen Subkultur, so z.B das „Dorian Gray“ in der Bülowstraße, eines der ältesten Frauenlokale der Stadt. Dort treffen sich auch die Leserinnen und Mitarbeiterinnen der „Frauenliebe“ (später: „Garconne“), zu der die kunst- und kulturbegeisterte Annette Gedichte und Kurzgeschichten beisteuert.


Der sorglosen Zeit wird bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Ende bereitet. Ihren Eltern wird aufgrund der jüdischen Herkunft nach und nach die wirtschaftliche Existenz zerstört, und Annette Eick muss sich bei einer Familie als Kindermädchen verdingen, anstatt schriftstellerisch zu arbeiten – ihr eigentlicher Berufswunsch.


Zu einer einschneidenden Erfahrung sollte ihre Liebesbeziehung mit Francis, einer US-Amerikanerin aus Chicago, werden. Die um 1900 geborene Tochter eines Komponisten war ursprünglich nach Deutschland gekommen, um im Schwarzwald eine Lungentuberkulose auszukurieren. Danach zog es sie nach Berlin, wo sie Englisch unterrichtete und Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft besuchte. Mitte der dreißiger Jahre lernen sich beide Frauen kennen und ziehen zusammen. „Später kam es dazu, dass Francis in einem Anfall von Schizophrenie mit einem Messer auf mich losging – zum Glück haben wir parterre gewohnt, ich konnte aus dem Fenster springen Ich war sehr verzweifelt. Andererseits war es gut, dass ich mit Francis auseinander ging, weil ich mich dann für die Auswanderung entschied.“


Aber wohin? Eines der wenigen Länder, die Flüchtlinge aufzunehmen bereit waren, war Palästina. Doch um eines der raren Einreisezertifikate der englischen Regierung, unter deren Mandat Palästina damals stand, zu erhalten, muss Annette Eick einen Gutsbetrieb aufsuchen, wo jüdische Jugendliche auf das spätere Landleben vorbereitet werden. Sie geht nach Havelberg, eine Kleinstadt nordwestlich von Berlin. Die Pogromnacht im November 1938 – in Berlin wird das elterliche Geschäft zerstört – wird auch Annette Eick in Havelberg fast zum Verhängnis: das Gut wird nachts von Nazis überfallen, und alle Jugendlichen werden gewaltsam ins Polizeigefängnis verschleppt.


„Etwas Schreckliches passierte“, erinnert sich Annette Eick, und die damaligen Ängste werden wieder lebendig. „Die Frau unseres Leiters war auf der Farm geblieben und stand vor der Entbindung. Das Kind blieb im Bauch, sie hat furchtbar gelitten und ist daran gestorben. Nach ungefähr zwei oder drei Tagen fanden wir heraus, dass die Frau des Polizisten mit Absicht die Tür offen gelassen hatte. Wir rannten weg, wir entkamen. Ich ging zurück zur Farm. Alles war zerstört. Was ich zum Glück in den Glasscherben fand, war mein Passport. Ich hatte ein Rad dort und dachte, Was bleibt mir übrig, ich fahre zu meinen Eltern nach Berlin zurück.' Da kam mir auf der anderen Straßenseite der Postbote entgegen, ebenfalls auf dem Rad. Er hielt mich an und sagte, 'Frollein, warten Sie mal, ich hab einen Liebesbrief für Sie.' Jetzt kommt das Mirakel. Ich dachte, woher krieg ich einen Brief?“ Fieberhaft öffnet sie den Umschlag – er enthält die rettende Einreiseerlaubnis für England, die ihr die inzwischen dort lebende Freundin Ditt, das Marlene-Dietrich-„Double“, besorgen konnte.


So kann Annette Eick Ende 1938 Deutschland noch rechtzeitig verlassen. „Das Schlimme war natürlich, dass ich meine Eltern auf dem Bahnsteig winken sah, als der Zug wegfuhr, und wusste, ich werde sie nie wieder sehen.“ In England schlägt sie sich als Hausangestellte, Kindermädchen und Erzieherin durch. Doch trotz der zahlreichen deutschen Bombenangriffe – bei einem kommt sie nur knapp mit dem Leben davon – lassen die Begegnungen mit KünstlerInnen in den Emigrantenclubs die Londoner Jahre, selbst während des Krieges, zur „erlebnisreichsten Zeit“ ihres Lebens werden.


1944 lernt sie in einem Londoner Lokal Joy, eine Sekretärin, kennen. „Das war eine ganz komische Sache. Als Joy das Restaurant betrat, sagte meine Freundin Hortense aus Versehen ganz laut, 'Annette, your type is coming.' Alle starrten mich und Joy an! Es war zwar wahr, aber ich muss so rot geworden sein wie sonst was! Wir lachten dann, und Joy kam zu mir. Lachte und kam mit zu mir nach Hause. Ich hatte da ein schreckliches, ein ganz kleines Zimmer. Ich konnte ja nicht mehr bezahlen. Ich fragte sie, ob sie mit raufkommen will, eine Tasse Kaffee trinken? Wir schliefen die erste Nacht zusammen und lebten dann fünf Jahre zusammen.“


1949, nachdem sich Joy von ihr getrennt hat, lernt sie über eine gemeinsame Freundin Gertrud Klingel, genannt Trud, kennen, und sie kommen sich näher. „Sie war ein starker Charakter, sehr anständig, hundertprozentig glaubwürdig und zuverlässig.“ Die acht Jahre ältere Trud hatte schon in den frühen dreißiger Jahren in England gelebt und war nach Kriegsende dorthin zurückgekehrt.
Nach Truds Pensionierung 1964 verlassen sie London und ziehen nach Devon. Dort betreibt Annette Eick elf Jahre lang eine Kindertagesstätte im eigenen Haus. Für ihr liebstes Hobby, das Schreiben, bleibt da nur wenig Zeit. Nach einem Nervenzusammenbruch, einer Reaktion auf ihre traumatische Flucht aus Deutschland und das Wissen um die Ermordung der Eltern in Auschwitz, hatte sie um 1950 angefangen, Gedichte auf Englisch zu schreiben.


Als Trud an Alzheimer erkrankt, beginnt für Annette Eick eine der schwersten Prüfungen ihres Lebens. Monatelang pflegt sie die zunehmend verwirrter und teilweise auch gewalttätig werdende Freundin. 1989 stirbt Trud und lässt die Lebensgefährtin nach vierzig gemeinsamen Jahren völlig erschöpft und allein zurück. Trotz Krankheiten lebt Annette Eick bis heute in ihren eigenen vier Wänden und versorgt sich weitgehend allein. Ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich zu behalten, ist ihr sehr wichtig. Einsam ist es um sie geworden, denn viele Freunde und Bekannte sind inzwischen gestorben. Nur die „unsterbliche Muse – Titelheldin ihres 1984 veröffentlichten Gedichtbandes „Immortal Muse“ – inspiriert Annette Eick noch immer häufig zu Stegreifreimen oder philosophischen Betrachtungen. Schreiben als Überlebenshilfe.



© Claudia Schoppmann (Berlin 2005)


Text zum Download pdf
Zitiervorschlag:
Schoppmann, Claudia: Annette Eick (Jahrgang 1909) [online]. Berlin 2005. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_eick_d.html> [cited DATE].